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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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ungesetzlich, daß man das offene Kirchspiel St. Pancras in ein geschlossenes umgewandelt hatte. Daher war es ein Schock für Carpenter, als er spät an diesem Abend eine Nachricht von Bocton erhielt, die ihn veranlaßte, in das Haus des Earl of St. James zu stürmen.
    Niemals in seinem Leben war Carpenter wütender gewesen. »Was zum Teufel haben Sie getan, Sie alter Schwindler?« schrie er. Das House of Lords hatte das Reformgesetz gerade mit einer knappen Mehrheit abgelehnt, und der Earl of St. James zählte zu den Peers, die es abgelehnt hatten.
    Carpenter wußte nicht, welche Reaktion er auf seinen Ausbruch erwarten sollte, und es war ihm auch egal. Er war überrascht, als der alte Mann ein wenig verwirrt dreinsah. »Sie wollten George seinen Sitz wegnehmen«, murmelte er.
    »Natürlich! Es ist ein Rotten borough«, rief Carpenter, den das Verhalten des Earls blind dafür machte, daß der alte St. James nicht mehr ganz im Besitz seiner geistigen Kräfte war. »Sie alter Narr!« schrie Carpenter. »Sie sind genau wie der Rest von Euch Aristokraten!« Er drehte sich auf dem Absatz um und schlug die Tür hinter sich zu, so daß er nicht mehr sah, wie der Earl ihm ehrlich verwirrt nachstarrte. »Wer bin ich?« fragte er.
    Lucy wußte, daß sie keine Zeit zu verlieren hatte. Am Tag nach dem Nebel hatte Horatio zu husten begonnen, und Ende September war das Fieber wieder da. Sie hatte einen Arzt geholt, den sie mit einem der Sovereigns, die Horatio gefunden hatte, bezahlen wollte, doch nach einer sorgfältigen Untersuchung hatte der Doktor nur traurig den Kopf geschüttelt und ihnen geraten, ihm feuchte Brustwickel zu machen, damit wenigstens das Fieber sank. Dann gab er Lucy die Goldmünze zurück. Am 6. Oktober spuckte Horatio Blut. So kommt er nie durch den Winter, dachte Lucy.
    Lavendelhügel. Wenn sie ihn nur dort hinaufbringen könnte. Sie wußte nun, daß es dort, in Clapham, eine Cousine gab, die einen Laden hatte. Sie hatte sich ein Bild von dieser Cousine zurechtphantasiert – eine warmherzige, freundliche, mütterliche Frau, die den kleinen Jungen willkommen heißen und für ihn sorgen würde. So viele Läden konnte es in dem Dorf Clapham nicht geben, dachte Lucy; sie mußte nur ein wenig herumfragen, dann würde sie ihre Cousine schon finden. Sie hatte gehofft, den Laden erst allein aufsuchen zu können, aber keine Zeit gehabt, und als sie den Jungen nun Blut husten sah, überwältigte sie ein blindes Verlangen, ihn aus der Stadt hinauszubringen.
    Sie hatte niemandem etwas gesagt. Ein Fuhrmann brachte sie für einen Shilling im Morgengrauen zur London Bridge. Dort ließ sie Horatio, in Schal und Mantel vermummt, an einer Ufertreppe und holte das Boot aus Southwark. Es wurde gerade hell über dem Fluß, als Lucy Horatio in das Boot trug. Er klapperte mit den Zähnen, beklagte sich aber nicht. Ein paar Minuten später fuhren sie langsam flußaufwärts.
    Noch eine Gestalt war an diesem Morgen in der frühen Dämmerung unterwegs, gekleidet in einen Mantel, mit einem alten Dreispitz auf dem Kopf. Unter dem Mantel trug der alte Mann nur einen Seidenschlafrock und ein Paar hochglanzpolierte Schuhe mit hohen Absätzen. Ein Diener folgte ihm.
    Als der Earl of St. James Seven Dials erreichte, waren dort bereits Leute unterwegs; in dem nahen Markt von Covent Garden begann bereits das Geschäft. Bei der Säule von Seven Dials blieb der Earl stehen, als halte er nach jemandem Ausschau. Er wartete eine Weile, bis er einen Straßenhändler mit einem Karren näher kommen sah. Der Händler, ein freundlicher Kerl, dem bald klar wurde, daß der alte Gentleman nicht richtig im Kopf war, sprach sanft mit ihm. Nur eines war ihm ein Rätsel – der alte Gentleman sprach breites Cockney. »Harn Se meinen Dad gesehn? Harry Dogget, Straßenhändler.«
    »Alter Junge, ich glaube, Ihr Dad ist schon ein paar Jährchen tot.« Eine Frau mit einem Korb Austern gesellte sich zu ihnen. »Wer ist das?« fragte sie.
    »Sucht seinen Dad«, erwiderte der Händler.
    Sie lachte. »Was ist mit deiner Mum, Lieber?«
    »Nee.« St. James schüttelte den Kopf. »Die kann ich nich brauchen. Ich muß Sep finden. Er hätt in dem Kamin sein sollen, nich ich.«
    »Er hat wirklich den Verstand verloren«, meinte die Frau kopfschüttelnd.
    In diesem Augenblick hielt ein paar Meter weiter eine Kutsche, aus der Lord Bocton stieg, begleitet von Mr. Cornelius Silversleeves.
    Es ging sehr langsam voran, da Lucy gegen die Strömung rudern mußte. Sie wollte an

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