London
bringen. Ich nehme an, Sie wissen, daß der Earl ein persönlicher Freund des Königs ist?« Seine hochgewachsene, gebieterische Gestalt und die ehrfurchtgebietenden Namen, die er nannte, überwanden jeglichen Widerstand.
Nur einen Augenblick später ratterte seine Kutsche in Richtung Westminster davon, doch kaum außer Sicht, schlug sie einen ganz anderen Weg ein. Und so fand der Earl of St. James Zuflucht im Haus von Mrs. Penny in Clapham Common am Lavendelhügel.
»Verdammt!« knurrte Lord Bocton, als er hörte, daß sein Vater verschwunden war. »Wir hätten ihn festbinden sollen.«
Das große Reformgesetz wurde im Sommer 1832 verabschiedet. Nicht nur bekamen die neuen Städte Sitze im Parlament und wurden die Rotten boroughs abgeschafft, sondern man legte auch fest, daß breite Teile der Mittelschicht das Wahlrecht erhielten. Frauen konnten natürlich immer noch nicht wählen.
Da Horatio nun tot war und Lucy nur noch an sich und ihre Mutter zu denken hatte, überlegte sie seit einiger Zeit, ob sie es sich leisten könnte, nicht mehr für Silas zu arbeiten. Sie zog verschiedene Möglichkeiten in Betracht, unter anderem die kleine Fabrik, in der ihre Mutter früher gearbeitet hatte. Sie fragte sich sogar, ob sie nicht etwas Unterstützung von der Cousine in Clapham bekommen könnte, aber sie fand keine Spur von ihr oder ihrer Familie. Eines Sommertags wurde diese Frage unerwartet geklärt. Sie kam wie immer morgens zur Arbeit, fand Silas aber zu ihrer Überraschung ohne sein Boot vor. »Wo ist das Boot?« fragte sie.
»Hab's verkauft. Tatsache ist, ich glaube, ich brauch dich nicht mehr. Ich mach jetzt was anderes.« Er nahm sie mit in eine Gasse, wo ein schmutziger alter Karren stand. »Mit dem sammle ich jetzt Müll. Die Leute zahlen dafür, daß man ihn wegbringt. Den schichtet man irgendwo in einem Hof zu einem großen Haufen auf und durchsucht ihn nach etwas Brauchbarem. Wenn du willst, kannst du beim Sortieren helfen.«
»Ich glaube nicht«, erwiderte sie. »Meine Mutter und ich werden schon zurechtkommen.«
Für Eugene Penny brachte das Jahr eine neue Ausgabe, die er sich jedoch leisten konnte.
Die drei Wochen, in denen der Earl of St. James bei seiner Familie wohnte, waren für Penny die anstrengendste Zeit seines Lebens. An manchen Tagen war der alte Mann bei klarem Verstand und wollte nach Hause. Eugene war gezwungen, ihn festzuhalten, was er peinlich fand. An anderen Tagen war der Earl wieder verwirrt. Es war eine Erleichterung, als Meredith endlich kam und ihn an einen ruhigen Ort im West Country brachte.
Von da an hatte Eugene so viel Arbeit in der Bank, daß ihm kaum Zeit blieb, an etwas anderes zu denken, bis er eines Tages in der Fleet Street eine gebückte, traurige Gestalt mit abgenutzten Schuhen sah und plötzlich erschrocken und schuldbewußt feststellte, daß es sein Pate Jeremy Fleming war. Es war zwei Jahre her, daß er ihn zuletzt besucht hatte. Warum hatte er das nicht getan, obwohl er von ihm doch soviel Freundlichkeit erfahren hatte? Er hatte viel zu tun, aber das war keine Entschuldigung. Was um alles in der Welt war nur mit ihm geschehen?
Flemings Geschichte war bald erzählt. »Schuld war Wellingtons Biergesetz von 1830, weißt du«, erklärte er. »Als jedermann sich über die hohen Preise beklagte, wurde doch ein Gesetz erlassen, daß jeder Bier brauen und verkaufen darf. So habe ich da oben bei St. Pancras selbst eine kleine Brauerei aufgemacht und ein Jahr lang Bier gebraut.«
»Ich dachte, du seist für so ein Unternehmen zu vorsichtig?«
»Stimmt. Aber ich habe es so bewundert, wie du dein Leben angepackt hast, Penny, daß ich mir gesagt habe, ›siehst du, Jeremy Fleming, was du mit ein bißchen Mut hättest erreichen können‹. Und ich habe mir gedacht, daß jeder Bier kaufen will, aber meines hat keiner gewollt. Dann bin ich unvorsichtig geworden und habe es erst recht weiter versucht. So habe ich alles verloren.«
»Das habe ich nicht gewußt! Du hast es mir nie gesagt.« Ich habe auch nie gefragt, dachte Penny. »Wovon lebst du jetzt?«
»Meine Kinder sind sehr hilfsbereit, sie geben mir, soviel sie können. Ich verhungere nicht.«
»Und dein Haus?«
»Ich habe jetzt etwas Kleineres, hier in der Nähe.«
»Du mußt heute noch zu uns zum Essen kommen!« rief Penny. Von diesem Tag an bezahlte er Flemings Miete, ließ ihm einmal im Jahr einen neuen Anzug machen und lud ihn häufig nach Clapham ein. Auf Marys Wunsch hin wurde er zum zusätzlichen Paten ihrer
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