London
eine Stelle bei Chelsea. Dort überquerte eine wacklige alte Brücke den Fluß, der danach eine scharfe Biegung nach links machte. Ein Stückchen weiter kam aus dem alten Dorf Battersea ein Zufluß in die Themse, und von hier aus war es nur ein kurzer Fußweg über den Lavendelhügel hinauf nach Clapham Common.
Es war Vormittag, als Lucy das Boot vertäute. Horatio war so schwach, daß sie ihn tragen mußte. Sie sah sich um und entdeckte in dem kleinen Kirchhof, der hier lag, ein altes Familiengrab mit einer breiten Einfassung. Dorthin trug sie ihren Bruder, setzte sich mit dem Rücken gegen den Grabstein und wiegte Horatio sanft in ihren Armen.
Es war still hier, nur ein paar Spatzen tschilpten in den Bäumen, und für ein paar Minuten brach sogar die Sonne durch den grauen Himmel. Schließlich öffnete Horatio die Augen.
»Wir sind da«, sagte Lucy. »Schau nur! Du kannst den Lavendelhügel sehen. Da gehen wir hinauf, und dann wirst du dich besser fühlen.«
Er nickte langsam. »Lavendelhügel«, sagte er und schloß wieder die Augen, bevor er zu husten begann – ein tiefer, schleimiger Husten. »Lucy?« fragte er. »Sterbe ich?«
»Natürlich nicht.«
»Wenn ich weiterleben könnte«, sagte er schwach, »würde ich gern mit dir auf dem Lavendelhügel wohnen. Ich bin froh, daß du mich hierhergebracht hast.«
»Laß mich nicht allein«, flehte sie. »Du mußt kämpfen!«
»Lucy«, flüsterte er, »sing mir das Lavendellied vor.«
Und so sang sie, aber als sie zu der Zeile kam »Wenn du der König bist, dilly, dilly«, ging ein Beben durch seinen schwachen Körper, dann wurde er schlaff, und sie wußte, daß er tot war.
»Ein höchst bemerkenswerter Fall«, sagte Silversleeves. »Ein vollkommener Persönlichkeitsverlust. Er scheint sogar zu glauben, daß er eine andere Familie hat.«
»Er ist also verrückt?« fragte Bocton. »Sie können ihn einsperren?«
»Gewiß. Jetzt gleich, wenn Sie wollen.«
»Das käme mir sehr zupaß. Und es wird dem politischen Fortschritt helfen.«
Der öffentliche Zorn über das Vorgehen der Lords am Abend zuvor war so groß, daß die neugeschaffene Polizei am Vormittag mit Tumulten rechnete. Eine Stunde vor der Abstimmung in Westminster sagten manche Parlamentsmitglieder, der König müsse wohl noch ein paar Whigs zu Peers machen, um die Reform durchzubekommen.
Um halb zwölf vormittags fuhr eine geschlossene Kutsche durch die Tore des großen Hospitals Bedlam in Lambeth, und man führte den schwach und verwirrt aussehenden Earl of St. James in die prachtvolle Eingangshalle.
Dort sollte er jedoch nicht sehr lange bleiben.
In Bedlam war es üblich, daß die ehrbare Öffentlichkeit die Anstalt gegen ein Eintrittsgeld besichtigen konnte. Neugierige konnten die Personen beobachten, die entweder vom Strafgericht oder von Silversleeves und seinen Freunden für verrückt erklärt worden waren. Manche Männer hielten sich für Napoleon und nahmen eine pompöse Haltung an; andere lachten oder schnatterten. Manche waren an ihren Betten festgebunden, während wieder andere sich manchmal auszogen und obszöne Gesten vollführten. Die meisten Leute fanden das höchst amüsant. Ein alter Mann behauptete, der Earl of St. James zu sein.
Am frühen Nachmittag kam Meredith. Als George herausgefunden hatte, was mit seinem Großvater geschehen war, hatte er den Bankier um Rat gebeten, und dessen Antwort versprach nichts Gutes. »Ich glaube, mit Silversleeves' Hilfe wird es Ihrem Vater gelingen, Ihren Großvater zu entmündigen. Wir müssen ihn aus Bedlam herausholen. Sie können das nicht tun, weil Bocton die Leute dort wahrscheinlich vor Ihrem Erscheinen gewarnt hat. Aber ich schaffe es vielleicht. Ich muß etwas finden, wo er unter erträglichen Bedingungen leben kann.«
»Aber das wäre ja eine Entführung, Meredith!«
»Richtig. Und ich glaube, ich weiß ein Versteck für ihn.«
Er schickte einen Jungen, der nach Silversleeves fragte, und vergewisserte sich so, daß dieser für ein, zwei Stunden mit Bocton unterwegs war. Unmittelbar danach fuhr Meredith' Kutsche im Hof vor. Er betrat das Gebäude und befahl den Pförtnern, sofort Silversleeves zu holen. Ungeachtet ihrer Versicherungen, der Direktor sei nicht da, schritt er den Gang hinunter und verlangte, St. James zu sehen. Kaum hatte er ihn gefunden, packte er ihn am Ärmel und führte ihn zum Ausgang. »Ich bin der Leibarzt Seiner Majestät des Königs und habe Befehl, diesen Patienten unverzüglich an einen andern Ort zu
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