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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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dumm, wirkte grobschlächtig im Vergleich zu diesem jungen Mann. Sie hatte eben die Brauerei Bull geheiratet mit all ihren Vorzügen, Stärken und Schwächen.
    Es gab zwei Möglichkeiten, bei Wapping die Themse zu überqueren. Man konnte eine Fähre nehmen. Aufgrund der zahlreichen Brücken verschwand der traditionelle Beruf des Fährmanns in der City und im Westend zwar mehr und mehr, doch unten in den Docks konnten Passagiere mit genügend Geld immer noch einen Fährmann anheuern. Die zweite Möglichkeit war der Themse-Tunnel, der Wapping mit Rotherhite am Südufer verband. Brunei und sein Sohn – zwei der größten Ingenieure Englands, wenn auch der Vater aus Frankreich gekommen war – hatten ihn entworfen und den Bau überwacht. Technisch war er ein Meisterwerk, kommerziell jedoch ein Mißerfolg. Die Fahrbahnen, die zum Tunnel hinunterführen sollten, waren nie gebaut worden. Nur die Fußgängertreppen waren in Gebrauch, und es war eine mutige oder arme Person, die sich dort hindurchwagte und riskierte, von den hier auf der Lauer liegenden Straßenräubern ausgeplündert zu werden. Aber die Besucherin des alten Herrn hatte überhaupt kein Geld.
    Es war reiner Zufall, daß sie sich an ihn wenden wollte – ausgelöst durch einen Zeitungsartikel. Nur wenige Leute in der Whitechapel Street, wo sie wohnte, konnten lesen, aber ein Mann konnte es, und er hatte sie auf den alten Herrn aufmerksam gemacht. »Lord Shaftsburys ›Gesellschaft zur Verbesserung der Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen‹«, hatte er vorgelesen, »hat eine höchst großzügige Spende von einem Gentleman in Blackheath erhalten.« Darauf folgten Name und Adresse des alten Herrn. »Er muß ein freundlicher alter Gentleman sein«, hatte der Mann hinzugefügt.
    Sie war nicht ganz sicher, wer der alte Herr war, und sie fragte sich, ob sie ihm schreiben solle. »Ich könnte für dich schreiben«, bot ihr Freund ihr an. Dank der neu organisierten Penny-Post konnte es sich selbst eine arme Person in Whitechapel leisten, einen Brief zu schicken. Doch schließlich hatte sie sich dafür entschieden, diesen freundlichen Gentleman persönlich aufzusuchen. Der Weg von Whitechapel durch den Tunnel nach Blackheath war nur etwa sechs Meilen lang. »Vielleicht hilft er mir, wenn er mich sieht«, sagte sie zu ihrem Freund. Lucy Dogget war schwanger.
    Die Dinnergesellschaft des alten Herrn hatte wieder zu ihrem vergnügten Verlauf gefunden. Zum Fleisch wurde ein ausgezeichneter Claret serviert. Mary Anne hatte höflich wieder ihre Unterhaltung mit dem alten Herrn zu ihrer Rechten aufgenommen. Sie sah, daß jedermann sich entschlossen hatte, die peinliche Torheit des jungen Meredith zu vergessen. Der alte Herr beschrieb die Rhododendren, die er aus Indien kommen ließ, um seinen Garten zu verschönern. Silversleeves erklärte einer alten Lady, wie man den Dampf einer Untergrundbahn absaugen konnte. Captain Barnikel beschrieb die schönen Konturen seines neuen Teeklippers. Penny fragte sich laut, wofür man den Kristallpalast verwenden könne, wenn die Weltausstellung vorbei war. Mary Anne warf Meredith einen verstohlenen Blick zu. In einem knappen Jahr, dachte sie, wird er sich einem Regiment angeschlossen haben, egal, was er vorher in Indien macht; er wird Uniform tragen. Er wird in einem roten Rock sehr attraktiv aussehen.
    Der letzte Gang bei einem viktorianischen Dinner bestand aus zwei verschiedenen Arten von Gerichten: Wachteln, Huhn mit Mayonnaise, speckumwickelter Truthahn, grüne Erbsen à la française. Danach konnte man den Gaumen mit einem Souffle »reinigen«. Doch für jene, die einen süßeren Abschluß mochten, gab es Kirschkompott, Charlotte russe, neapolitanische Kuchen, Madeiragelee, Erdbeeren und Feingebäck.
    Die Gäste am Tisch unterhielten sich nun in kleinen Gruppen. Mary Anne wandte sich erneut an den jungen Meredith. »Erzählen Sie mir von den Hindugöttern. Sind sie wirklich so schrecklich?«
    »Die religiösen Schriften der Hindus sind ebenso alt wie die Bibel, vielleicht sogar älter«, versicherte er ihr. »Sie sind in Sanskrit geschrieben, das eine gemeinsame Wurzel mit unserer eigenen Sprache hat.« Er erzählte so anschaulich von Wischnu und Krischna, daß sie ihn bat weiterzusprechen, und er beschrieb die sagenhaften Paläste der Maharadschas, ihre Elefanten und Tigerjagden. Dieser aristokratische Abenteurer, der nur ein paar Jahre jünger war als sie, würde bald weit weltgewandter, erfahrener und interessanter sein,

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