London
Untergrundbahn zu bauen und zu betreiben. Sie würde wie fast alles im viktorianischen England ein kommerzielles Unternehmen sein, und britische Investoren waren hinsichtlich der neuen Technologie noch vorsichtig. Nicht so die Amerikaner. Und bei seinem letzten Besuch in London hatte sich Mr. Gorham Dogget an Arnold Silversleeves gewandt. »Elektrische Bahnen haben in Chicago funktioniert«, sagte er. »London ist die Stadt mit der höchsten Bevölkerungsdichte der Welt und braucht unbedingt ein neues Transportsystem. Erstellen Sie mir eine Studie über die Durchführbarkeit, und ich werde Investoren finden.« Und er hatte den ersten Teil eines Honorars bezahlt, das den Ingenieur mit den Augen zwinkern ließ.
Gorham Doggets Besuch in ihrem Haus hatte Esther Silversleeves in solche Aufregung versetzt, daß sie die Pennys um Unterstützung gebeten hatte. Sie hatten ihren Sohn mitgebracht, einen intelligenten jungen Mann, der seinen Weg in der City machte. Der Herr aus Boston schien sie für akzeptable Gesellschaft zu halten. Auch das Essen schien Gnade vor seinen Augen zu finden. In einer Sache aber wußte sie nicht, wie sie sich verhalten sollte – und erst als die Ente serviert wurde, sprach sie sie an. »Mein Mädchenname war ebenfalls Dogget«, wagte sie sich vor.
»Wirklich? Ihr Vater war ein Dogget? Was hat er gemacht?«
»Er war ebenfalls Investor«, erwiderte sie mit nur einem Hauch von Erröten.
»Hört sich nach einem ordentlichen Mann an! Wir sind mit der May flower nach drüben gefahren.« Er schien auch Gefallen an der jüngeren Generation zu finden. Esthers ältesten Sohn Matthew und seine Frau betrachtete er offensichtlich mit Wohlwollen. Matthew war Rechtsanwalt in einer guten Firma, und Dogget hatte bereits angedeutet, daß er vielleicht Arbeit für ihn habe. Der junge Penny erzählte eifrig von seinen Bemühungen, die Versicherung, die sich im Familienbesitz der Pennys befand, auf ein aufregendes neues Gebiet, auf den prosperierenden Markt der Lebensversicherungen, zu verlegen.
»Ein vernünftiger, vorausblickender junger Mann, Ihr Sohn«, murmelte der Bostoner Harriet Penny zu.
Erst als die Desserts serviert wurden, erhielt Esther Silversleeves wirklich die Chance zu glänzen. »Weiß jemand von Ihnen etwas über einen gewissen Lord St. James?« erkundigte sich Gorham Dogget beiläufig.
Errötend vor Vergnügen über die Verbindung, auf die sie sich berufen konnte, begann Esther: »O ja, ich kann Ihnen alles über den Earl sagen. Er und mein Schwager sind Partner in der Schiffahrt; ihr Klipper ist die Charlotte Rose. Sie glauben, daß sie sogar die Cutty Sark schlagen kann! Tatsächlich hat der Earl so hoch auf sie gewettet, daß ich glaube, sein Vermögen liegt gänzlich auf den Schultern meines Schwagers. Er ist der Kapitän, wissen Sie.« Sie strahlte alle an, während Mr. Gorham Dogget ein nachdenkliches Gesicht zog.
Lucy Dogget blieb nicht mehr viel Zeit. Wenn sie das Mädchen retten wollte, mußte sie es bald versuchen. Für eine alleinstehende Frau mit Kind in Whitechapel war es hart. Manchen ging es noch schlechter; Familien mit sechs oder sieben Kindern und einem arbeitslosen Vater. Diebstahl oder Prostitution waren ihre einzigen Möglichkeiten, und in der Regel folgten bald Krankheit und Tod.
Für Lucy hatte der große Kampf darin bestanden, ihren kleinen Jungen aus diesen Verhältnissen herauszuhalten. Sein Vater hatte in den fünf Jahren, die er noch lebte, etwas geholfen, aber dann blieb sie allein zurück. Sie hatte eine Reihe niederer Arbeiten verrichtet, um sich und das Kind zu ernähren, und hatte den Jungen überredet, auf eine Schule des Kirchspiels zu gehen, für die sie ein paar Pence bezahlen mußte. Aber das hatte ihn gelangweilt, und er hatte es vorgezogen, herumzusausen und Gelegenheitsarbeiten anzunehmen. Im Alter von zwölf Jahren konnte William zwar ein wenig lesen und seinen Namen schreiben, arbeitete aber den größten Teil des Tages bei einem Bootsbauer. Dabei blieb er jedoch nicht, mit sechzehn suchte er sich Gelegenheitsarbeiten auf den Docks. Mit neunzehn heiratete er die Tochter eines anderen Dockarbeiters, mit zwanzig hatte er einen eigenen Sohn, der aber bald starb. Ein weiterer folgte, dann drei Tochter, von denen nur eine überlebte. Vor acht Jahren starb seine Frau im Kindbett. Solche Dinge passierten, und viele Männer heirateten wieder. Nicht so William. Er begann statt dessen zu trinken. Und so hatte Lucy mit siebzig Jahren erneut
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