London
Mutterpflichten.
Whitechapel hatte sich mittlerweile verändert. Eine Reihe schrecklicher Pogrome in Osteuropa hatten ab den achtziger Jahren einen großen Teil der jüdischen Bevölkerung zur Emigration gezwungen. Viele konnten in die Vereinigten Staaten fliehen, doch einige Zehntausende kamen ins tolerante England und fanden wie andere Flüchtlinge zuvor ihre erste Heimat im Londoner Eastend. Die Neuankömmlinge waren in der Regel sehr arm, trugen seltsame Kleidung und sprachen Jiddisch. »Sie bleiben für sich und machen keinen Ärger«, bemerkte Lucy billigend, zog aber trotzdem mit ihren Nachbarn nach Stepney. Dort fand sie Arbeit in einer Fabrik, die Regenkleidung herstellte, und tat ihr Bestes, um die beiden Enkelkinder durchzubringen.
1870 war die allgemeine Schulpflicht eingeführt worden, und selbst im Eastend gab es nun in jedem Kirchspiel eine Art von Schule. Noch war es nicht möglich, das Gesetz in der Praxis durchzusetzen. Nur wenige Kinder besuchten regelmäßig den Unterricht, und bei Tom, ihrem Enkel, mußte Lucy es aufgeben, als er zehn war. Seine Schwester Jenny war anders. Sie verdiente ein paar Pence, indem sie dem Lehrer half, den anderen Kindern das Lesen beizubringen. Jenny konnte noch gerettet werden.
Vor fünf Jahren hatte Lucy die Arbeit aufgeben müssen, weil ihre Beine schwach wurden. Doch ein paar Pence konnte sie mit der Fertigung von Streichholzschachteln noch verdienen. Das Material bekam sie gestellt, den Klebstoff mußte sie selbst kaufen. Die Firma Bryant and May bezahlten ihr zweiundzwanzig Pennies für zwölf Dutzend, ein Gros, das sie ablieferte. Wenn Lucy vierzehn Stunden arbeitete, brachte sie sieben Gros pro Tag fertig, so daß sie in einer Achtundneunzigstundenwoche vier Pfand und zehn Shilling verdiente.
Mit Jennys Hilfe konnten sie die Miete bezahlen und ein paar Lebensmittel kaufen. Aber was würde aus Jenny werden, wenn Lucy starb? Ihr Sohn war ein Trinker. Ihr Enkel Tom hatte sich mit den rüpelhaften Jugendlichen aus der jüdischen Gemeinde eingelassen, die zwar nicht soviel tranken, aber immer spielten. Im letzten Jahr hatte es in Whitechapel die furchtbaren Morde Jack the Rippers gegeben. Bisher waren die Opfer Prostituierte, aber welches Mädchen konnte sicher sein, wenn solche Irren frei herumliefen?
Noch etwas beunruhigte Lucy. Das erste Zeichen für Unruhen im Eastend hatte es letztes Jahr in der Streichholzfabrik Bryant and May gegeben, als die Mädchen dort, angeführt von einer energischen Außenseiterin namens Annie Besant, gegen ihre Hungerlöhne protestierten. Dieses Jahr war eine andere Frau gekommen, Eleanor Marx, deren Vater, Karl Marx, ein revolutionärer Schriftsteller war, der im Westend lebte, um den Arbeitern des Gaswerks bei der Gründung einer Gewerkschaft zu helfen, und kurz darauf hatte es einen großen Streik bei den Docks gegeben. »Ich sage nicht, daß sie unrecht haben«, meinte Lucy zu Jenny. Ihr Sohn hatte ihr oft die schrecklichen Szenen beschrieben, wenn man die Gelegenheitsarbeiter um die Schichten raufen ließ. »Aber wohin soll das führen?« Sie wollte für Jenny einen sicheren Hafen finden. Aber wie? Lucy fiel eine einzige Möglichkeit ein. Und so machte sie sich an einem kalten Dezembertag auf einen Weg, den sie viele Jahre lang nicht gegangen war.
In der Welt der Rechtsanwälte gab es keinen erhabeneren und würdigeren Ort als den großen Platz in der Nähe der Chancery Lane, Lincoln's Inn Fields, wo sich die Büros der Anwaltskanzlei Odstock und Alderbury befanden.
Lucy war nie bei Silas' Anwälten gewesen, da sie ihr Kind nicht hergeben wollte. Vor zwölf Jahren erfuhr sie aus einer alten Zeitung von seinem Tod. Sie hatte an seinen Anwalt geschrieben, ob ihr Verwandter sie vielleicht bedacht hatte, doch dem war nicht so.
Ihr fiel niemand ein, der ihr geben könnte, was sie suchte: eine Stellung für Jenny in einem anständigen Haus, so weit vom Eastend entfernt wie möglich, wo man sie freundlich behandeln würde.
Sie sprach um zehn Uhr vormittags in dem Büro am Lincoln's Inn vor, nannte ihren Namen und bat um ein Gespräch mit Mr. Odstock. Er ließ sie zwei Stunden lang warten, wußte aber, wer sie war. »Ich fürchte, ich kann Ihnen nicht helfen.«
»Aber was ist aus seinem ganzen Vermögen geworden?« platzte Lucy heraus.
»Nun«, meinte er ein wenig überrascht, »seine Tochter…« Als er ihren verblüfften Blick sah, verschloß er sich sofort wie eine Auster. »Ich fürchte, ich kann nichts für Sie tun«,
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