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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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vielleicht an Ihren freien Tagen tragen wollen.« Oder sie bekam ein Paar Handschuhe, oder sogar einen Mantel, kaum getragen. Seit sie verwitwet war, ließ Mrs. Silversleeves Jenny oft bei sich im Wohnzimmer sitzen, bat sie, ihr das Kleingedruckte aus der Zeitung vorzulesen, und unterhielt sich mit ihr. Nur ein Thema schien tabu. Wenn Jenny zweimal im Jahr ihren Vater und ihren Bruder im Eastend besuchte, erwähnte sie das ihrer Arbeitgeberin gegenüber nie. »Davon wollen wir nichts hören, Jenny«, sagte die alte Lady sonst.
    In ihrem Leben hatte es keine Männer gegeben. Als sie ein Mädchen war, hatten ein paar der Lieferjungen versucht, mit ihr zu flirten, aber sie hatte sie rasch ihrer Wege geschickt. Im Laufe der Jahre hatte sie ein paar Freundinnen gefunden und sich gelegentlich mit Männern getroffen. Doch sobald sie begannen, ihr Avancen zu machen, hatte sie sie auf ihre stille Art zurückgewiesen. Sie hatte ihre Gründe.
    Warum ging sie jetzt also zur Tower Bridge? Percy mit seinem hohlwangigen Gesicht, ein wenig traurig, aber entschlossen, hatte etwas an sich, das ihn verläßlich wirken ließ. Am Freitag hatte sie beschlossen, an ihrem freien Tag nur einen Spaziergang in Hampstead Heath zu machen. Wenn sie sich nun doch auf den Weg zur Tower Bridge machte, hatte das nichts zu bedeuten, redete sie sich ein. »Er wird ja doch nicht da sein.« Sie war wirklich überrascht, als sie ihn eine Stunde später mitten auf der Brücke stehen sah, und er versuchte, ganz lässig auszusehen und zu verbergen, daß er nach der Warterei halb erfroren war.
    Es gab verschiedene Orte, zu denen Violet ihre Kinder regelmäßig mitnahm. Im Sommer war der botanische Garten in Kew beliebt, weil sie mit einem Boot flußaufwärts dorthin fuhren. Sehr gefragt war auch Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett. Die Gemälde in der National Gallery waren eine Pflicht, wenn sie auch gerne draußen auf dem Trafalgar Square die Tauben fütterten. Öfter baten sie um einen Besuch in South Kensington.
    Prinz Alberts Weltausstellung im Jahr 1851 hatte große Gewinne eingebracht, so daß die Regierung das Gelände vom Hyde Park bis South Kensington kaufen konnte, und hier, zu beiden Seiten einer breiten Straße, Exhibition Road genannt, lagen nun mehrere wunderbare Museen. Ebenso wie die Albert Hall am Park war auch das neue Victoria und Albert Museum fast fertiggestellt, und diesem Gebäude gegenüber befand sich das Natural History Museum, in dem Fossilien, Gesteine und wundervolle Pflanzenzeichnungen Zeugnis ablegten von den wissenschaftlichen Entdeckungen und den Ideen Darwins, die im Laufe der letzten beiden Generationen die intellektuelle Welt verändert hatten. Die Kinder bewunderten vor allem die riesigen Skelette der Dinosaurier.
    Für Violet selbst übertraf ein Ausflug alles andere, vielleicht weil das Ziel in Bloomsbury lag, dem ruhigen georgianischen Viertel mit seinen Ziegelbauten östlich der Tottenham Court Road. Hier standen viele Gebäude der Londoner Universität, die sie gerne besucht hätte. Die Antikensammlungen waren auf der ganzen Welt unerreicht, und zumindest einmal in den Ferien nahm sie ihre Kinder ins Britische Museum mit.
    An diesem grauen Dezembertag, als sie die ägyptischen Mumien betrachteten, fragte Henry beiläufig: »Mutter, du willst doch nicht mehr länger eine Suffragette bleiben?«
    Wie viele Eltern im eduardischen England meinte Violet, Kinder blieben in einem kindlichen Stadium, ohne Fragen zu stellen, bis sie sich plötzlich in Erwachsene verwandelten. Sie hatte nie mit Henry über ihre Aktivitäten gesprochen, außer daß sie ihm gesagt hatte, daß Frauen unter einer großen Ungerechtigkeit zu leiden hätten und daß sie und andere mutige Frauen versuchten, das zu ändern. Zwei ihrer Kinder glaubten vorbehaltlos an sie. Die kleine Helen wollte ihre Mutter in jeder Hinsicht nachahmen. Frederick, der für Charterhouse noch zu klein war, war im Internat einer Preparatory School. Ihn hatte die Nachricht von der Eskapade seiner Mutter kaum erreicht. Für den Achtjährigen war sie das kindliche Wunschbild, von dem er träumte, wenn er einsam war. Aber er war auch voller Heldenverehrung für seinen älteren Bruder Henry. Wenn Henry und seine Mutter eine Auseinandersetzung hatten, kapselte er sich ganz ab.
    »Das kommt darauf an, was die Regierung tut«, erwiderte Violet.
    »Also, ich wünschte, du würdest es sein lassen«, meinte Henry.
    »Dein Vater war sehr für das Frauenwahlrecht«, erklärte

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