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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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gesehen. Rosig und glücklich ließ sie sich danach in einer Droschke nach Hampstead zurückbegleiten. Am Eingang des großen Giebelhauses hatte sie sich von ihm auf die Wange küssen lassen. Dann ging er durch die warme Nacht den ganzen Weg zur Victoria Station zurück, wo er aber den letzten Zug verpaßte, so daß er sich zufrieden auf eine Bank legte und den ersten Zug im Morgengrauen nahm.
    An diesem Abend hatte er einen weiteren Meilenstein passiert. Bevor Percy Jenny in Hampstead zurückließ, hatte er ihr das Versprechen abgerungen, daß sie am nächsten Sonntag nach Crystal Palace kommen würde. »Wir essen zusammen mit Herbert und Maisie zu Mittag«, sagte er. »Ich hole dich am Bahnhof ab.«
    Jenny zögerte nur einen Augenblick. »Na gut.«
    Eastend. Graue, schmutzige Straßen ohne Hausnummern, die sich unter dem trüben östlichen Himmel dahinzogen, bevor sie nach Meilen und Meilen von Docks wie in einer Mündung auseinanderdrifteten.
    Jennys Familie lebte nun in einer kurzen, schmuddeligen Häuserzeile, die von der Mauer eines großen Speicherhauses abgeschnitten wurde. In den drei Zimmern im Erdgeschoß eines der schäbigen Häuser wohnten ihr Bruder und seine Frau mitsamt den drei Kindern sowie ihr Vater, der nicht mehr arbeiten konnte. Es war immer dasselbe. Jenny gab ihm ein paar Shilling, ihrem Bruder mehr. Mit der Sentimentalität des Trinkers sagte ihr Vater dann: »Siehst du, nie vergißt sie ihre Familie.« Ihr Bruder arbeitete in den Docks; an manchen Tagen fand er Arbeit, an manchen nicht.
    Wenn die Frau ihres Bruders in ihrer derben Bluse und ihrem verschlissenen Rock die Kleider sah, die Mrs. Silversleeves Jenny gegeben hatte, so ordentlich gewaschen und gestärkt, und auf ihre eigenen rauhen Hände mit den abgebrochenen Fingernägeln blickte, wenn sie sich vorzustellen versuchte, in was für einer Art Haus Jenny lebte, und ihre eigenen winzigen Zimmer mit den fadenscheinigen Teppichfetzen damit verglich, war es ihr unmöglich, keinen Neid zu verspüren. Und ihrem Bruder war es unmöglich, einen Hauch von Bosheit aus seiner Stimme zu verbannen, wenn er sie begrüßte: »Da ist ja meine Schwester Jenny. Respektabel wie stets.«
    Jenny warf es ihnen nicht vor, aber sie fühlte sich peinlich berührt.
    Sie wußte, daß es ihr nicht ganz gelang, ihren eigenen Widerwillen zu verbergen. Der muffige Geruch nach zerkochtem Kohl; der stinkende Abort auf dem Gang, den sich drei Familien teilten. Sie hatte nicht vergessen, wie es war, so zu leben. Sie erinnerte sich an ihre Großmutter Lucy mit den Stapeln von Streichholzschachteln; sie erinnerte sich an Hunger, an ein Leben, das noch weit schlimmer war. Aber vor allem erinnerte sie sich an Lucys letzte drängende Worte: »Komm nie hierher zurück, Jenny.« Respektabel? Für jemanden wie Jenny bedeutete Respektabilität saubere Leintücher und Kleider; ein Mann mit einer festen Stelle, Essen auf dem Tisch. Respektabilität war Moral, und Moral war Ordnung. Respektabilität war Überleben. Kein Wunder, daß viele Angehörige der Arbeiterklasse sie so hoch bewerteten.
    Der Besuch an diesem Samstag war wie immer. Sie plauderten ein wenig. Jenny hatte kleine Geschenke für ihren sechsjährigen Neffen und seine jüngere Schwester gekauft und mit dem kleinsten Kind, einem erst zweijährigen Mädchen, gespielt. Der Besuch hätte wie alle anderen geendet, wäre nicht die bleiche, magere Frau gekommen, gerade, als Jenny schon gehen wollte. Sie hatte strähniges, ungekämmtes rotes Haar, und ihre Augen lagen vor Müdigkeit tief in den Höhlen. Ein schmutziges Kind klammerte sich an ihre Hand und heulte, weil es sich geschnitten hatte. Jenny überzeugte sich, daß es kein tiefer Schnitt war, aber die Frau sagte, sie habe nichts, um ihn zu verbinden. Sie fanden etwas, beruhigten das Kind und noch zwei weitere Kinder der Frau, die hereinkamen. Alle sahen unterernährt aus.
    »Ihr Mann ist vor zwei Jahren gestorben«, erklärte Jennys Bruder, als sie fort waren. »Vier Kinder. Wir helfen ihr alle ein bißchen, aber…«
    »Was macht sie? Streichholzschachteln?«
    »Nein. Man verdient mehr, wenn man in Heimarbeit Matratzen stopft. Aber es ist schwere Arbeit, die einen auslaugt.«
    Jenny küßte ihren Vater und die Kinder zum Abschied, und ihr Bruder begleitete sie ein Stückchen. »Du hast es richtig gemacht, Jenny«, sagte er nach einer Weile. »Du hast recht gehabt, nicht zu heiraten. Du hast die Frau gesehen. Ihr Mann hatte eine gute Stelle als Gipsarbeiter. Und

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