London
lernte Percy sechs Jahre lang, und er war so geschickt, daß Mr. Brown ihm danach ein gutes Angebot für eine Anstellung machte. Doch Percy hatte etwas anderes im Sinn. Es war nicht ungewöhnlich, daß ein geschickter Schneider sich selbständig machte. Er war sicher, daß Tom Brown ihn weiter beschäftigen würde, und zudem konnte er Aufträge von anderen Schneidern annehmen. Wenn man gut war und lange Arbeitszeiten akzeptierte, konnte man mehr verdienen als ein Angestellter. Der eigentliche Anstoß aber war von Herbert gekommen.
»Ich sehe dich so selten, Percy«, sagte er, »und du bist jetzt alles, was ich an Familie habe.« Beide Eltern waren gestorben. »Warum suchst du dir nicht eine Wohnung in der Nähe von mir und Maisie? Die Luft da oben in Crystal Palace ist viel besser für deinen Husten.«
Nachdem der Kristallpalast nach der Weltausstellung abgebaut worden war, hatte ihn eine Unternehmensgruppe gekauft und auf dem Hügelkamm am südlichen Rand des Londoner Beckens wieder aufgestellt. Auf den südlichen Hängen war hinter den Häusern offenes Land, das sich bis zu den bewaldeten Hügeln von Sussex und Kent erstreckte. Auf dem Kamm selbst jedoch standen nun Häuser – Herrenhäuser in großen Gärten ganz oben, weiter unten bescheidenere Vorstadthäuser. Die Luft war ausgezeichnet weit weg vom Londoner Smog. Crystal Palace, wie man nun sagte, war eine höchst erstrebenswerte Wohngegend. Herbert und Maisie wohnten dort seit ihrer Heirat.
»Der Bahnhof liegt ganz nah. Ich nehme jeden Morgen den Zug in die City«, erklärte Herbert. »Und ein anderer fährt zur Victoria Station. Von deiner Haustür bis zur Savile Row bräuchtest du nicht einmal eine Stunde.«
Herbert hatte recht, was den Husten betraf. Percy hatte die Wirkung des Londoner Nebels in letzter Zeit gespürt. Und wenn er von Tom Brown fortging und selbständig arbeitete, müßte er gar nicht jeden Tag nach London fahren. Trotzdem zögerte er vor diesem großen Umzug.
Percy und Herbert trafen sich manchmal samstags, wenn Herbert ab zwei Uhr nachmittags freihatte. Heute, an diesem schönen Herbsttag, machten die Brüder nach einem Essen im Pub einen Spaziergang. Als sie sich dem alten London Stone in der Cannon Street näherten, deutete Herbert auf ein großes Gebäude gegenüber: »Du weißt, was das ist, Percy! Der große Bahnhof Cannon Street. Da fährt mein Zug nach Crystal Palace ab.«
Sie gingen an Billingsgate vorbei zum Tower, und den ganzen Weg redete Herbert auf ihn ein. »Du siehst blaß aus, Percy. Du mußt raus. Maisie hat versprochen, eine Frau für dich zu suchen. Die will bestimmt auch da oben wohnen. Und mehr Geld verdienst du auch!« Und schließlich, als sie über die Tower Bridge gingen, hatte Herbert beschlossen, den Narren zu spielen.
»Oh, na gut!« gab Percy nach. »Ich ziehe um.«
»Er hat sich entschieden!« rief Herbert. »Ladys and Gentlemen«, wandte er sich an die Umstehenden, »Sie sind alle Zeugen. Mr. Percy Fleming hat gerade versprochen, sich selbständig zu machen und in die gesunde Gegend von Crystal Palace zu ziehen…«
Percy war erleichtert, als er sah, daß die Zuschauer lächelten. Aber Herbert war noch nicht fertig. »Madam.« Er trat zu der jungen Frau, die Percy bereits bemerkt hatte. »Wollen Sie bezeugen, daß mein Bruder zugestimmt hat, in Crystal Palace zu wohnen?«
Sie lächelte. »Ich denke schon«, erwiderte sie. Während Herbert sich an einen anderen der Umstehenden wandte, blieb Percy bei ihr stehen. »Ich hoffe, mein Bruder hat Sie nicht verärgert«, meinte er.
»Schon in Ordnung«, erklärte sie. »Er macht sich nur einen Spaß.«
»Ja, das tut er manchmal.« Sie hat sehr hübsche braune Augen, dachte er.
Nichts Anmaßendes an sich, sehr still. Sie sah aus, als habe sie schon Leid erfahren. »Sie wohnen nicht hier?« fragte er.
»Nein.« Sie zögerte einen Augenblick. »Oben in Hampstead. Ziemlich weit von Crystal Palace.«
»Ja. An schönen Samstagen komme ich oft hierher«, log er. »Meistens allein.«
»Wie nett.«
Herbert war nun zum Weitergehen bereit. »Vielleicht sehen wir uns einmal wieder«, wollte Percy fast sagen, aber das wäre ein wenig dreist gewesen.
Edward Bull wußte, was die richtige Vorgehensweise war. Ein kurzer Spaziergang mit seinem Enkel über das Gelände von Charterhouse, dann kam alles heraus. Ständig hatte man den Jungen gehänselt: »Hat man deine Mutter schon verhaftet? Könnte sie auf geistige Unzurechnungsfähigkeit plädieren?« Einmal hatte
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