London
jetzt ist er tot… Wenn mir je etwas passiert, Jenny, würdest du dann ein Auge auf meine Kleinen haben? Ich meine, sie nicht verhungern lassen? Weil du ja nicht verheiratet bist. Könntest du das tun?«
»Ich denke, ich würde mein Bestes tun«, erwiderte sie langsam.
Es war eine fröhliche Gesellschaft am nächsten Tag. Percy sah glücklich aus, als er sie an der Crystal Palace Station abholte. Sie trug einen hübschen kleinen Strohhut und ein reizendes grünweißes Kleid, sehr einfach, aber aus ausgezeichnetem Stoff, den sie von Mrs. Silversleeves bekommen hatte. Sie sah, daß Percy stolz auf sie war.
Herbert und Maisie lebten in einem hübschen kleinen Haus, zwei Stockwerke über einem Souterrain. Davor war ein kleines Stückchen Rasen mit einer Ligusterhecke.
Jennys geübtes Auge sah sofort, daß im Haus jeder Zentimeter poliert und glänzend war. Sobald sie Maisie sah, wußte sie, warum. Die größte soziale Veränderung, die die industrielle Revolution mit sich gebracht hatte, betraf die Vorstädte. Die vielen neuen Betriebe, die wachsende Zahl von Banken, Versicherungsgesellschaften und die immer umfangreichere Verwaltung im viktorianischen und eduardischen London erforderten eine Armee von Angestellten. Und da es nun Züge gab und die sich ausbreitenden Vorstädte billiger und gesünder waren, pendelte diese enorm gewachsene neue Schicht zu Zehntausenden in die Arbeit. Männer wie Herbert Fleming, dessen Eltern oder Großeltern Ladenbesitzer oder Handwerker gewesen waren, fuhren mit der Bahn ins Büro. Ihre Frauen, die früher in der Nähe der Werkstatt gelebt oder im Laden geholfen hatten, blieben zu Hause und hielten sich für etwas Besseres als die Frauen, die arbeiteten.
Maisie war ziemlich klein. Sie hatte einen roten Mund und kleine, spitze Zähne. Sie beschäftigte ein einziges Dienstmädchen, das sich bei ihr zu Tode arbeitete, und noch ein Mädchen, das von außerhalb zum Helfen kam. Auf jedem Sessel in ihrem Wohnzimmer lagen Schonbezüge, auf der Fensterbank stand eine Topfpflanze, und an einem Ehrenplatz an der Wand hing ein Gemälde von einem Berg, das ihr Vater in Brighton gekauft hatte. Das Eßzimmer war eher klein.
Es gab Brathuhn, unter theatralischen Verbeugungen von Herbert tranchiert, mit den üblichen Beilagen.
Herbert und Maisie brüsteten sich damit, sehr gesellig zu sein. Einmal im Monat gingen sie in ein Varietetheater. »Und am nächsten Abend führt mir Herbert die ganze Vorstellung noch einmal vor!« lachte Maisie.
»Sie mit ihrer Theatergruppe ist genauso schlimm«, erwiderte Herbert fröhlich.
»Maisie hat eine hübsche Singstimme«, fügte Percy hinzu. Aber ihre Lieblingsbeschäftigung im Sommer waren Fahrradtouren an Sonntagnachmittagen.
Es war Jenny nicht entgangen, daß Maisies scharfe Augen von Anfang an nachdenklich ihre Kleidung gemustert hatten. Als das Hähnchen verspeist und ein Obstkuchen serviert worden war, hatte sie offensichtlich entschieden, es sei Zeit für ein paar Erkundigungen. »Nun«, meinte sie munter, »Percy erzählt, Sie leben in Hampstead. Eine hübsche Gegend.«
»Ja«, erwiderte Jenny. »Ich denke schon.«
»Bevor wir dieses Haus gekauft haben, dachten wir auch daran, dort zu leben«, erklärte Maisie. Kurz vor ihrer Heirat mit Herbert hatte Maisie fünfhundert Pfund geerbt. Kein Vermögen, aber genug, um das Haus zu kaufen und noch etwas übrigzubehalten. »Hat Ihre Familie schon immer dort gewohnt?« fragte sie.
Plötzlich wurde es Jenny klar, daß sie nichts über sie wußten. Percy hatte ihnen nichts erzählt. »Nein«, bekannte sie wahrheitsgemäß.
Percy hatte zuvor noch nie jemanden zu Herbert und Maisie mitgebracht. Ihm war klar, daß Jenny in Maisies Augen kein großer Fang war, aber er war nicht auf den Gedanken gekommen, daß sie das Gefühl haben würde, davon betroffen zu sein. Maisies gesellschaftliche Ambitionen waren an und für sich bescheiden, und mit ihrem Haus und ihrem beliebten Ehemann war sie im Grunde zufrieden. Aber was würde es in ihrer Wohngegend für den Namen Fleming bedeuten, wenn der Bruder ihres Mannes, der in der Nähe lebte, unter seinem Stand heiratete? Sie hatte geplant, ein nettes Mädchen für ihn zu finden, das ihnen allen Ehre machte. »Was hält Sie dann in Hampstead?« fragte Maisie weiter, ohne sich beirren zu lassen.
»Das frage ich sie auch immerzu«, schaltete sich Percy ein, recht geschickt, wie er meinte. »Sie ist da oben so weit weg, daß ich sie kaum zu sehen bekomme.« Und er
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