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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Violet.
    »Aber hätte er dich auf der Straße herumrennen und den Premierminister belästigen lassen?«
    Das ging zu weit. »So redest du nicht mit mir, Henry!«
    »Du solltest hören, wie sie in der Schule mit mir über dich reden.«
    »Um so schlimmer für sie. Ich hoffe, du weißt, daß es um eine gerechte Sache geht.«
    »So scheint das kein anderer zu sehen«, bemerkte Henry bitter. »Könntest du ihnen nicht einfach helfen, ohne in die Zeitung zu kommen?«
    »Es ist meine moralische Pflicht weiterzumachen, und es tut mir sehr leid, daß du das nicht verstehst. Vielleicht wirst du es eines Tages.«
    »Niemals, Mutter«, entgegnete er ernst. Als er sein Gesicht abwandte, schien es Violet, als sei ein Band zwischen ihnen plötzlich für immer zerrissen. Oh, wenn nur sein Vater da wäre, um diese Bürde jetzt mit mir zu teilen, dachte sie.
    1910
    Nur wenige, die sich einen Anzug im Westend kauften, wußten, daß die obere und die untere Hälfte in fast allen Fällen von verschiedenen Leuten geschneidert wurden. Wenn Kunden zu Tom Brown kamen, wurde ihr Jacket von einem Rockschneider, die Weste von einem Westenschneider und die Hose von einem Hosenschneider angefertigt. Percy Fleming war Hosenschneider und mittlerweile sehr geschickt. Daher verdiente er wirklich recht gut, glücklicherweise, da er heiraten wollte.
    Er und Jenny hatten sich Zeit gelassen. Beide waren vorsichtig. Obwohl sie sich mindestens einmal pro Woche sahen, war er in den ersten Monaten nie sicher gewesen, ob er überhaupt ihre Freundschaft gewonnen hatte. Aber er war hartnäckig geblieben, und im Herbst des vorigen Jahres hatte sie sogar selbst einmal ein Rendezvous vorgeschlagen.
    Percys Wohnung war im Obergeschoß eines Hauses auf den Hängen von Crystal Palace. Das Schlafzimmer war winzig, aber er hatte einen großen, heilen Dachraum, den er sich als Werkstatt hergerichtet hatte. Während er zuschnitt, nähte und bügelte, sah er direkt über London und auf die Hügel von Highgate und Hampstead auf der anderen Seite. Im Zuge des materiellen Fortschritts im viktorianischen Zeitalter hatte London sich noch mehr zerteilt. Die Trennung zwischen dem reichen Westend und dem armen Eastend ging zurück bis zu der Zeit der Stuarts, aber erst in den letzten Jahrzehnten hatte sich aufgrund der Brücken und Eisenbahnen die Zersplitterung zwischen dem nördlichen und dem südlichen Ufer entwickelt. Zuvor war der Fluß immer Londons Wasserstraße gewesen. Es hatte zwar nur eine Brücke gegeben, aber Fährmänner hatten die Menschen zu den Theatern und anderen Vergnügungen entlang des Südufers gerudert. Als jedoch im neunzehnten Jahrhundert immer mehr Brücken gebaut wurden, verschwanden die Fährmänner, und der Fluß verlor sein buntes Treiben. Dann waren die Eisenbahnen gekommen und hatten die wachsende Bevölkerung weiter und weiter in die nördlichen und südlichen Vorstädte gebracht. Die Bahnhöfe entlang des Flußufers – Waterloo, Victoria, Cannon Street, London Bridge – überzogen alte Viertel wie Bankside und Vauxhall mit Eisenbahngleisen. Und so hatten sich die beiden Welten nach und nach getrennt. Angehörige der Mittelschichten und des Klerus kamen aus südlichen Vorstädten zur Arbeit in die City oder ins Westend. Trotz billiger Fahrkarten lebten Arbeiter in der Regel in der Nähe ihrer Arbeitsstelle, in der einen oder anderen der beiden Welten. Und die Themse war die breite Trennlinie.
    Percy und Jenny trafen sich immer irgendwo in der Stadtmitte. Als er einmal vorgeschlagen hatte, einen Spaziergang in Hampstead Heath zu machen, hatte sie energisch den Kopf geschüttelt. »Nein, das ist viel zu weit nur für einen Spaziergang.« Und er verstand, daß sie darin ein zu weites Vordringen in ihr Territorium sah, und so hatten sie sich stets in der neutralen Zone verabredet.
    Es war schwer zu sagen, wann er eine Veränderung festgestellt hatte. Vielleicht war es der Augenblick im Hyde Park, als sie zum erstenmal seinen Arm genommen hatte. Ihre Rendezvous hatten sie immer untertags vereinbart – ein Spaziergang, ein Besuch im Tower, ein Besuch in einer Teestube; doch als der Sommer begann, hatte er beschlossen, einmal abends mit ihr auszugehen. Er hatte kaum gewußt, was er vorschlagen sollte, bis Herbert ihm zu Hilfe kam: »Geht ins Palladium, Percy. Das ist der letzte Schrei.«
    Was für ein Abend! Das große, neue Theater am Piccadilly Circus bot die großartigste Varieteunterhaltung in London. Percy hatte Jenny noch nie so lebhaft

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