London
Macht auf bedrohliche Weise. Auch der britische Handel sah sich nun heftiger Konkurrenz ausgesetzt, so daß selbst standhafte Freihändler wie Bull sich zu fragen begannen, ob der riesige Wirtschaftsraum des Empires nicht besser mit Zöllen geschützt werden sollte. Die Frage, ob man den Iren die Selbstverwaltung gewähren sollte, hatte die liberale Partei gespalten. Doch der beunruhigendste Aspekt des neuen Zeitalters unter Eduard lag viel näher.
Die enormen Ungleichheiten und Probleme des neuen Industriezeitalters waren nicht gelöst. Zwar amüsierte König Eduard seine weniger puritanischen Untertanen mit seinem lebendigen Hof und seinem prächtigen Stil, doch waren sie auch beunruhigt über die Unsicherheit dieser ungelösten Spannungen. Die von Marx prophezeite große sozialistische Revolution war zwar noch nicht eingetreten, doch die Gewerkschaften um die Jahrhundertwende hatten zwei Millionen Mitglieder und rechneten damit, bald auf vier Millionen anzuwachsen. Bei den letzten Wahlen hatten sie ihre eigene politische Partei aufgestellt, die sich bereits als kommende dritte Kraft zeigte. Im Augenblick waren die Parlamentsmitglieder der Labour Party (nur wenige davon wirkliche Sozialisten) bereit, die liberale Regierung zu unterstützen, deren radikaler Flügel, angeführt von dem brillanten Waliser Lloyd George, sich dazu verpflichtete, Sozialleistungen für die Armen einzuführen. »Aber das konservative House of Lords wird sogar das niederstimmen«, prophezeite Bull. »Und was passiert dann? Es wird neuen Arger geben. Und ihr heizt ihn an. Habt ihr an eure Kinder gedacht? Ist das ein gutes Beispiel?«
»Die Kinder sind stolz auf mich!« erwiderte Violet stürmisch. »Sie wissen, daß ich mich für eine gute und moralische Sache einsetze. Ich zeige ihnen, wie man für das Richtige eintritt.«
Sein Bruder war mit seinen Clownereien manchmal wirklich albern, dachte Percy Fleming. Echt Herbert. Eine kleine Menschengruppe war stehengeblieben und starrte zu ihm hinauf, wie er auf der Mitte der Tower Bridge stand. »Entscheide dich, Percy!« rief er. »So lange bleibe ich hier stehen, auch wenn die Brücke aufgeht!«
Unter den Menschen war auch eine sehr respektabel aussehende junge Frau – vielleicht ein oder zwei Jahre älter als er, vermutete Percy. Er fragte sich, was sie von dem Ganzen hielt.
Percy Fleming war ein glücklicher Mann. In der vierten Generation umfaßte die Nachkommenschaft Jeremy Flemings, des Angestellten der Bank von England, insgesamt dreißig Menschen. Manche hatten es zu etwas gebracht, manche nicht. Viele lebten nicht mehr in London. Percys und Herberts Vater hatte einen Tabakwarenladen in Soho gehabt, ein Stückchen östlich der Regent Street. Als Percy noch ein Kind war, hatte das Straßenbauamt in Soho zwei große Straßen gebaut – die Charing Cross Road, die vom Trafalgar Square aus nach Norden ging, und die Shaftesbury Avenue, die zum Piccadilly Circus führte und schon seit langem von Theatern gesäumt wurde. Während Herbert das unkonventionelle Soho des Theaters liebte, fühlte sich Percy mehr zu der ruhigeren Seite der Regent Street hingezogen, die nach Westen in das gesetzte Mayfair mündete. Hier gab es noch einige altehrwürdige Geschäfte hugenottischer Uhrmacher und Handwerker, doch der am häufigsten vertretene Berufsstand des Viertels, in der Savile Row hinter dem Burlington House, waren die Londoner Schneider.
Percys Vater, obwohl Tabakhändler, hatte viele Bekannte unter den Geschäftsleuten. »Die goldene Meile nennt man sie«, sagte er immer. »Sobald ein Kunde durch die Tür kommt, sehe ich, ob er einen Anzug aus dem Westend trägt. Gott hat die Menschen nicht in Standardgrößen geschaffen. Ein gut geschnittener Anzug paßt so perfekt, daß ein Mann nicht einmal spürt, daß er ihn anhat. Ware von der Stange hat keinen Stil.«
Percy fand die goldene Meile wundervoll. Als Kind sah er den Lehrlingen und Laufburschen zu, die Muster auslieferten und Botengänge erledigten. Durch seinen Vater freundete er sich mit manchen Zuschneidern an. Während sein Bruder Herbert nach einem kurzen Flirt mit dem Theater einen Posten als Angestellter antrat, wollte er die fünf oder sechs Lehrjahre als Schneider ableisten. Als er schließlich einen Schneidermeister fand, der ihn nahm, und seinem Vater davon erzählte, war Fleming senior wahrhaft beeindruckt. »Tom Brown!« rief er begeistert. »Das nenne ich einen richtigen Schneider für Gentlemen, Percy.«
Bei Tom Brown
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