London
beschrieb in allen Einzelheiten, wie er an der Victoria Station den letzten Zug verpaßt hatte, worüber er und Herbert herzlich lachten. Maisie schwieg. Jenny fühlte sich jämmerlich. Wollte Percy vor seiner Familie verbergen, was sie war?
Das Essen war beendet, und die beiden Brüder waren zusammen nach draußen gegangen, als Maisie fragte: »Sie sind in Stellung, nicht wahr?«
»Ganz richtig«, erwiderte Jenny.
»Ich habe es mir gedacht. Diese Kleider. Wir hatten niemals jemanden in der Familie, der Dienstbote war. Auch in Herberts Familie nicht.«
»Nein. Ich vermute, das werden Sie auch nie«, antwortete Jenny.
»Oh. Das ist dann ja in Ordnung.«
Als Percy Jenny eine Stunde später im Park von Crystal Palace einen Heiratsantrag machte, erwiderte sie: »Ich weiß nicht, Percy. Ich brauche etwas Zeit.«
Esther Silversleeves wartete zwei Wochen, bis sie Jenny ansprach, weil sie sich Sorgen machte. »Jenny, bitte sagen Sie mir, was los ist.«
Obwohl Jenny ein paar Freundinnen hatte, gab es keine, bei der sie wirklich das Gefühl hatte, sich anvertrauen zu können, daher hatte sie die letzten beiden Wochen allein nachgedacht. Und je mehr sie nachdachte, desto unmöglicher schien alles. Maisie und Herbert haben es ihm mittlerweile wahrscheinlich ausgeredet, vermutete sie. Wahrscheinlich wünscht er, er hätte mir den Antrag nie gemacht. Was will Percy auch mit einem späten Mädchen, wie ich es bin, ohne Geld? Maisie könnte ein junges Mädchen finden, das viel passender für ihn wäre. Und es gab ja auch noch ihren Bruder und seine Kinder. Ich mag arm sein, überlegte sie, aber solange ich arbeite, kann ich seine Kinder vor dem Verhungern bewahren, wenn ihm etwas passieren sollte. Und die liebe alte Mrs. Silversleeves braucht mich wirklich.
»Es ist wirklich nichts«, erwiderte sie.
»Erzählen Sie mir von ihm«, sagte die alte Lady ruhig, und als Jenny sie überrascht ansah, fuhr sie fort: »Ausgang am Samstagabend, hübsch angezogen, dann am nächsten Sonntag mit einem Strohhut unterwegs? Sie können mich doch nicht für so dumm halten, daß ich das nicht bemerkt hätte.«
Also erzählte ihr Jenny zögernd ein wenig von Percy und seiner Familie und von ihren Zweifeln. »Ich könnte Sie nicht verlassen, Mrs. Silversleeves. Ich verdanke Ihnen so viel.«
»Kind«, sagte Esther sanft, »Sie verdanken mir nichts. So lange werde ich nicht mehr leben, wissen Sie. Für mich wird schon gesorgt. Und was diesen Percy betrifft – wenn er Sie liebt, wird nichts, was diese Maisie sagt, ihn ernstlich berühren.«
»Aber es ist seine Familie.«
»Ach, zum Teufel mit seiner Familie!« Mrs. Silversleeves' Ausbruch überraschte sie beide. »Ist das alles?«
Es war nicht alles. Jeden Tag suchten sie die Erinnerungen an die Frau, die sie bei ihrem Bruder gesehen hatte, an das Elend ihrer eigenen Kindheit, an Lucys letzte Worte heim. Es war immer noch die nackte Realität. Eine Ehe mit Percy, ein paar Kinder vielleicht – aber was, wenn Percy starb? Ein Leben wie die armen Leute im Eastend? Vielleicht nicht ganz so schlimm, aber hart genug. Ihr Bruder hatte das ganz recht gesehen. Sie hatte gut daran getan, nicht zu heiraten. Sie hatte die Sicherheit bei den Silversleeves, sie hatte ein paar Ersparnisse. Wenn Mrs. Silversleeves starb, würde sie bestimmt eine gute Stelle finden. Junge Mädchen heirateten gedankenlos, Frauen wie Jenny nicht, obwohl sie sich so sehr danach sehnte, von Percy geliebt zu werden und mit ihm zu leben, daß es weh tat.
Vor einer Woche hatten ihre Magenschmerzen begonnen, zweimal war ihr übel gewesen. Sie war nicht überrascht, als Mrs. Silversleeves den Arzt rief.
Harley Street war sozusagen die Savile Row der Medizinerzunft. Wer hier seine Praxis hatte, war kein gewöhnlicher Arzt, sondern ein hervorragender Spezialist.
Etwas furchtsam schritt Jenny in der nächsten Woche die Harley Street entlang bis zu den heiligen Gemächern Mr. Algernon Tyrell-Fords. Der Hausarzt der Silversleeves hatte nichts Ernstes gefunden, aber er hatte Mrs. Silversleeves geraten, Jenny zu einem Spezialisten zu schicken, nur um sicherzugehen. »Natürlich muß sie gehen«, erwiderte Esther. »Schicken Sie alle Rechnungen an mich.« Und obwohl Jenny protestierte, ließ Esther sie in der Kutsche hinbringen.
Mr. Tyrell-Ford war ein großer, korpulenter und barscher Gentleman. Er befahl ihr schroff, sich auszuziehen, und untersuchte sie. »Ihnen fehlt nichts«, erklärte er offen. »Natürlich schreibe ich an Ihren
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