London
konnte, gingen sie dazu über, mit ihren Plakaten in den Rinnen am Straßenrand zu marschieren, wo die Polizei ihnen nichts anhaben konnte. Als einige Mitstreiterinnen Fenster einschlugen, weil die Regierung sich weigerte, ihre Abordnungen zu empfangen, wurden sie verhaftet, und als sie in den Hungerstreik traten, fanden viele Menschen das ungerechtfertigt. Doch als es genau belegte Berichte über Polizisten gab, die demonstrierende Frauen schlugen, oder über brutale Zwangsernährung in den Gefängnissen, wurde die Öffentlichkeit unruhig. Man arbeitete einen detaillierten Plan für eine gemäßigte Gesetzgebung aus, und während die Regierung ihn prüfte, gab es einen Waffenstillstand für alle illegalen Aktionen. Aber vor allem hatten sie im Laufe der Jahre Unterstützer gewonnen. Die Bewegung, die ihr Hauptquartier in der Strand und einen eigenen Verlag, die Women's Press, in der Charing Cross Road hatte, war nun groß und professionell. Im ganzen Land waren Zweigorganisationen aus dem Boden geschossen. Und heute wollte die Frauenbewegung der ganzen Welt demonstrieren, daß sie erwachsen geworden war.
»Komm«, sagte Violet. »Wir marschieren gemeinsam.« Helen war sehr stolz, als sie zum Untergrundbahnhof Sloane Station gingen.
Unmittelbar westlich des Buckingham-Palastes, etwas unterhalb der Knightsbridge Road am östlichen Ende des Hyde Park lag das Viertel Belgravia, das der reichen Familie der Grosvenors gehörte. Cubitt hatte dort stuckverzierte weiße Häuserzeilen und Plätze entworfen, groß und teuer, und am teuersten war der Belgrave Square. Etwas weiter westlich lag das lange Rechteck des Eaton Square mit den bescheideneren Häusern von Eaton Terrace, wohin Violet nach Colonel Meredith' Tod gezogen war. Sloane Square lag an der Grenze zwischen Belgravia und Chelsea, und hier war eine Haltestelle der Untergrundbahn.
Als die beiden Suffragetten durch dieses vornehme Viertel schritten, ernteten sie zum Teil mißbilligende Blicke. »Die Leute starren uns an«, flüsterte Helen ihrer Mutter zu. Deren Antwort vergaß sie nie.
»Wirklich?« Violet lächelte fröhlich. »Nun, mir macht das nichts aus.«
So etwas wie diesen Umzug, der nun am Ende von Westminster erschien, hatte Helen noch nie in ihrem Leben gesehen. Um die Kritik, sie seien unweiblich, zu widerlegen, kleideten sich die Suffragetten mit großer Sorgfalt. Alle Frauen, an die zehntausend, trugen lange Kleider, zumeist weiß. Die einzige Ausnahme war die Gestalt, die an der Spitze ritt, gekleidet als Jeanne d'Arc, die sich die Suffragetten als Schutzheilige erwählt hatten. Es gab Abordnungen und Festwagen aus ganz England, aus Schottland, Wales und sogar aus Indien und anderen Teilen des Empires. Die vier Meilen lange Prozession zog von der City am Big Ben und am Parlament vorbei zum Hyde Park zu der großen Kundgebung in der Albert Hall.
»Denk daran«, sagte Violet zu Helen, »wir sind für eine gerechte Sache. Wir demonstrieren für unser Land und für eine bessere Zukunft.«
Obwohl Helen diese Worte oder das erstaunliche Bild dieser Tausenden von Frauen in weißen Kleidern mit Schärpen und Fahnen nie vergaß, erinnerte sie sich vor allem an dieses außergewöhnliche Gefühl, gemeinsam für eine Sache zu marschieren, Seite an Seite mit ihrer Mutter, in eine neue Welt.
Es gab noch andere Anzeichen, daß ein neues Zeitalter anbrach. Als im Todesjahr König Eduards der Halleysche Komet gesehen wurde, betrachtete man das als rein wissenschaftlich interessantes Ereignis. Bedeutsamer war vielleicht die Entwicklung des Automobils. Es hatte relativ lange gedauert, bis die Engländer den Verbrennungsmotor nutzten. Es gab mittlerweile ein paar Autobusse und Taxis, aber in der Regel konnten sich nur die sehr Reichen Automobile leisten. Die Firma Rolls Royce bestand erst seit einigen Jahren, aber Penny besaß ein solches Auto, und am Samstag, den 17. Juni 1911, holte er Edward Bull damit ab.
Die Familie Penny war den Vettern Bull immer nahe geblieben. Dank der Heirat mit Gorham Doggets Tochter Nancy und des enormen Erfolges seiner Versicherungsgesellschaft war Penny nun ebenso reich wie Edward. Geplant war, daß sie Bulls Enkel, die beiden jungen Meredith, im Charterhouse abholen und nach Bocton mitnehmen sollten. Am nächsten Tag würde Penny sie zur Teezeit zurück in die Schule bringen. Sogar der alte Edward Bull, der kaum je in einem Auto gefahren war, war insgeheim aufgeregt über diesen Ausflug. Es war ein schöner Tag. Mit einer
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