London
Hausarzt.« Als sie fast wieder angezogen war, bemerkte er beiläufig: »Ich vermute, Sie wissen, daß Sie keine Kinder haben können.«
»Aber warum nicht?« Sie starrte ihn entsetzt an.
Er zuckte nur die Achseln. Viele Worte an eine so unbedeutende Frau zu verschwenden, die ohnehin nichts verstand, schien ihm überflüssig. »So sind Sie eben geschaffen«, erklärte er.
Percy hatte ihr geschrieben, sie sollten sich an der Tower Bridge treffen, und Jenny hatte zugestimmt. Es war fast eine Erleichterung, daß sie nun wußte, was sie tun sollte. Mrs. Silversleeves hatte gemeint, es würde Percy vielleicht nichts ausmachen, aber Jenny wußte es besser. »Er hat mir gesagt, daß er sich eine Familie wünscht. Ich kenne Percy. Wenn ich ihm jetzt die Wahrheit sage, wird er erklären, es mache nichts aus. Aber es macht ihm etwas aus.«
Percy wartete auf der Mitte der Brücke auf sie. Sie hakte sich freundlich bei ihm unter, und sie gingen ein wenig die Tower Bridge Road hinunter Richtung London Bridge Station, wo eine kleine Teestube war. Er bestellte Tee. »Wie ist es nun, Jenny?«
»Es tut mir leid, Percy«, erwiderte sie langsam. »Ich fühle mich so geschmeichelt, ich meine, wirklich geehrt. Du bist so ein guter Freund. Aber ich kann einfach nicht.«
»Ist es etwas, das Maisie…?«
»Nein«, unterbrach sie ihn. »Das ist es nicht. Es liegt an mir. Ich bin sehr gerne mit dir ausgegangen, Percy. Aber ich bin glücklich, wo ich bin. Ich will nicht heiraten. Niemanden. Ich glaube, wir sollten uns eine Weile lang nicht sehen.«
»Nun«, begann er, »wir können immer noch…«
»Percy, ich will dich nicht heiraten. Es tut mir leid.« Und bevor er wußte, was geschah, lief sie hinaus.
Sie ging schnell über die Tower Bridge. Als sie etwa die Hälfte überquert hatte, sah sie, daß von flußaufwärts ein Schiff kam und die Brücke sich bald drehen würde. Sie eilte bereits die nördliche Seite hinunter, als sie weit hinter sich einen Schrei hörte. Percy war gerannt. »Jenny!« rief er und stürmte auf die große Klappbrücke zu, doch ein stämmiger Polizist hielt ihn auf.
»Tut mir leid, Junge, da können Sie jetzt nicht rüber. Die Brücke geht hoch.« Und Percy sah, wie die Straße vor ihm hochgeschwenkt wurde, als Arnold Silversleeves' mächtiger Mechanismus in Gang gesetzt wurde. Es war ein ehrfurchtgebietender Anblick, wenn die Tower Bridge gehoben wurde, was etwa zwanzigmal am Tag geschah.
»Ich muß jetzt hinüber!« rief Percy.
»Das geht jetzt nur über den da«, sagte der Polizist und deutete auf den eisernen Gehsteg über der Brücke. Percy hastete zu dem südlichen Turm und erklomm in wilder Eile die über zweihundert Stufen, lief keuchend über den eisernen Steg und die Treppe am Nordturm hinunter. Aber Jenny war verschwunden.
Dreimal schrieb Percy an Jenny, bekam aber keine Antwort. Maisie stellte ihn einem anderen Mädchen vor, aber daraus ergab sich nichts. Wenn er aus seinem Fenster auf die fernen Hügel von Hampstead sah, fühlte er sich immer noch traurig.
1911
Noch nie in ihrem Leben war Helen Meredith so aufgeregt gewesen. Natürlich war sie es gewohnt, elegant gekleidet zu werden. Wie die meisten Mädchen ihrer Gesellschaftsklasse mußte sie selbst bei einem Spaziergang im Hyde Park einen Mantel und weiße Handschuhe tragen. Sie war ein Kind und wurde entsprechend gekleidet und behandelt. Aber nicht heute. Voller Stolz bewunderte sie sich in ihrem langen weißen Kleid mit der rotweißgrünen Schärpe im Spiegel. Sie war genauso gekleidet wie Mummy. Und nebeneinander würden sie bei der Krönungsprozession der Frauen mitmarschieren.
Die Herrschaft König Eduards hatte nur ein Jahrzehnt gedauert. Nun sollte nach einer schicklichen Trauerzeit Eduards Sohn Georg V zusammen mit seiner Gattin Mary gekrönt werden.
Die Bewegung der Suffragetten hatte beschlossen, am Samstag, 17. Juni, dem Wochenende vor dem königlichen Ereignis, eine eigene Krönungsprozession abzuhalten, die riesig sein sollte. In den letzten drei Jahren hatte diese Bewegung erstaunliche Fortschritte gemacht. Manche Taktiken der Anhängerinnen waren unerhört, manche eher raffiniert. Etwa der Trick, sich an öffentlichen Orten an Geländern festzuketten, hatte ihnen nicht nur Bekanntheit gebracht, sondern es ihnen auch ermöglicht, lange, wohlvorbereitete Reden zu halten, während die Polizei ihre Ketten durchsägen mußte. Als sie feststellten, daß man sie auf Bürgersteigen wegen »Verkehrsbehinderung« verhaften
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