London
Durchschnittsgeschwindigkeit von zwanzig Meilen pro Stunde kamen sie vor dem Mittagessen in Charterhouse an. Edward war einigermaßen verstimmt, als sie in der Schule telefonisch benachrichtigt wurden, daß sie nach London kommen sollten.
Auch die Jungen sahen enttäuscht drein; das Wochenende schien verdorben. Doch Henry machte einen Vorschlag. Zweifellos war sein Enkel Henry Meredith ein feiner Kerl, dachte Edward Bull, als der Rolls Royce zwei Stunden später London erreichte. Bull wußte, was Henry in der Schule durchgemacht hatte. Oftmals hatte er sich prügeln müssen, um seinen kleineren Bruder gegen die erbarmungslosen Angriffe seiner Mitschüler zu verteidigen, wenn der Name oder das Foto ihrer Mutter in der Zeitung erschien. Letztendlich hatte Henry erklärt, er unterstütze selbst die Sache der Suffragetten – was er nicht im mindesten tat –, und jeder im Haus, dem das nicht passe, müsse zuerst gegen ihn antreten. Da er nun groß und kräftig war, waren wenige geneigt, sich mit ihm auseinanderzusetzen.
»Ich respektiere Mutter, weil sie an ihre Sache glaubt«, sagte Henry zu seinem Großvater. »Vielleicht sollten Frauen wirklich das Wahlrecht haben. Ich verabscheue die Methoden der Suffragetten, aber wenn Mutter sagt, auf die höfliche, altmodische Art hätten die Frauen nichts erreicht, kann ich das nicht ableugnen. Und nun unterstütze ich sie, weil sie meine Mutter ist. Wenn ihr ohnehin nach London fahren müßt, könnten wir dann nicht mit? Wir würden dann morgen mit dem Zug zurück zur Schule fahren. Wir haben die Zeitungen gesehen, Großvater, deswegen wissen wir, daß Mutter heute demonstriert. Warum überraschen wir nicht Helen? Wir könnten alle zusammen in eine Teestube gehen.«
Helen taten die Füße weh, als sie und ihre Mutter am frühen Abend nach Hause kamen. Aber sie verspürte auch ein Gefühl des Triumphes. Sie war überrascht, als sie aus der Tür des Salons eine vertraute Stimme hörte. »Geh in dein Zimmer, Helen«, flüsterte ihre Mutter, aber sie gehorchte nicht und spähte durch die Tür.
Ihr Großvater und Henry waren da. Edward Bull sah grimmig aus.
»Du hast Helen, ein unschuldiges Kind, als Suffragette verkleidet und zu einer Demonstration mitgenommen, die sich womöglich zu einem Aufstand entwickelt hätte?«
»Die Veranstaltung war vollkommen friedlich.«
»Es ist vorgekommen, daß solche Aufmärsche nicht friedlich geblieben sind. Jedenfalls ist das kein Ort für ein Kind.«
»Willst du mir sagen, daß ich das Thema Frauenwahlrecht vor meiner eigenen Tochter nicht erwähnen soll?«
»Ich sehe keine Notwendigkeit«, erwiderte Bull. »Sie kann das eines Tages selbst entscheiden. Aber ich muß dir sagen, Violet, wenn du das Kind weiterhin so mißbrauchst, werde ich es mit nach Bocton nehmen.«
»Ich würde dich verklagen, Vater.«
»Und ein Richter würde mit mir übereinstimmen, daß du kein geeigneter Vormund für ein Kind bist.«
»Das ist absurd! Henry, sag etwas.«
»Mutter, wenn es je zu so etwas kommt, werde ich gegen dich aussagen. Es tut mir leid.«
Helen bebte vor Schreck. Schließlich hob sie jemand hoch und trug sie nach oben ins Kinderzimmer.
So einen Morgen hatte es bei Tom Brown seit Menschengedenken nicht gegeben. Und das allerschlimmste – Lord St. James persönlich war in einem der Anprobezimmer. Und wenn es ihm einfiel herauszukommen?
Eine Lady war in diese Hallen eingedrungen. Sie war sehr alt und gewiß sehr respektabel. Ganz in Schwarz gekleidet und auf einen Ebenholzstock gestützt. Sie hatte nach Mr. Fleming gefragt, der an diesem Morgen zufällig einige Hosen abliefern sollte. »Glauben Sie, wir könnten sie in einem Anprobezimmer verstecken?« flüsterte der Verkäufer.
»Nein«, erwiderte Mr. Brown ruhig. »Bieten Sie ihr einen Stuhl an, und sorgen Sie dafür, daß Seine Lordschaft vollständig angezogen ist, bevor er aus dem Anprobezimmer kommt.«
Es war für Esther Silversleeves keine leichte Entscheidung gewesen. Sie hatte Jennys Entschluß, Percy fortzuschicken, respektiert, und als die Monate verstrichen und Percys Briefe aufhörten, dachte sie, das sei eben Schicksal. Sie hatte Jenny im Sommer eine Woche lang nach Brighton in den Urlaub geschickt, um sie aufzuheitern, aber vor einer Woche war wieder ein Brief gekommen, und das Mädchen war sichtlich aus dem Gleichgewicht.
»Er ist von Percy«, sagte Jenny. »Er sagt, er hat ein Jahr lang gewartet, bevor er wieder geschrieben hat, aber er würde mich gerne wiedersehen. Er
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