London
sie nicht sicher. Sein Vater war einmal entlassen worden, nur weil er einen Vorarbeiter schief angesehen hatte.
Wenn man bestimmte Fachkenntnisse besaß, konnte man natürlich weit besser leben. Charlies bester Freund war Gipsarbeiter. Ein Onkel im selben Fach hatte ihm die Lehrstelle vermittelt. Der Junge hatte sich gut angestellt und lebte nun außerhalb des Eastends. Aber Charlie hatte nie genügend Geduld für so etwas gehabt. »Ich versuch's in den Docks«, sagte er. »Dann kommst du nie da raus«, hatte sein Freund eingewandt. Aber da täuschte er sich.
Charlies Heirat mit Ruth – was hatte es da für einen Krach gegeben! Daß sein Vater in Whitechapel jüdische Freunde hatte, war eine Sache, aber etwas ganz anderes war es, als er sich in Ruth verliebte. Manche seiner Freunde warnten ihn: »Sie sind immer noch Fremde, Charlie.« Aber die eigentliche Schwierigkeit lag bei Ruths Vater. »Er nennt mich einen Dieb«, berichtete Charlie. »Sagt, daß ich Ruth von ihrem Glauben fortstehle.« – »Er hat ganz recht«, meinte Charlies Vater. »Du mischst dich in Kreise ein, in denen du nichts zu suchen hast.«
»Ruth scheint nichts dagegen zu haben«, erwiderte Charlie.
Als sie heirateten, löste Ruths Familie jede Verbindung zu ihr. Selbst ihre Freundinnen aus der Kindheit ließen sie im Stich. »Ich will hier fort, Charlie«, meinte Ruth. Charlies Freund, der Gipsarbeiter, vermittelte ihnen bei einem Bekannten eine Unterkunft in Battersea, drei Zimmer im Obergeschoß eines Hauses, das dort stand, wo vor einer Generation noch die Lavendelfelder gewesen waren. Charlie war unsicher, wie es sein würde, in eine Gegend zu ziehen, wo ihn niemand kannte, und Ruth hatte noch nie in einer Gegend gelebt, wo es keine jüdische Gemeinde gab, doch als blonde, blauäugige Mrs. Dogget fügte sie sich gut ein.
Wieder einmal hatte Charlie das Gefühl, daß er auf die Füße gefallen war. Ruth fand eine Stelle in einer nahe gelegenen Klavierfabrik, und er bekam Arbeit bei den städtischen Busbetrieben. Nach zwei Jahren gelang es ihm, in der sichersten Gegend des Viertels ein hübsches, kleines Haus zu mieten. Die Shaftesbury-Siedlung war eine gut geführte Genossenschaft von Arbeiterhäusern, die der Philanthrop Lord Shaftesbury für respektable Arbeiter und Handwerker errichtet hatte. Als das erste Kind geboren wurde, sah die Lage für Charlie rosig aus.
Im allgemeinen war die Lage der Arbeiter jedoch nicht so gut. Die Gewerkschaften hatten viel für die Arbeiterklasse getan, und ihre Vertretung, die Labour Party, hatte im Parlament nun so viele Abgeordnete, daß sie sogar die Regierung bilden konnte. Aber in den schwierigen Jahren nach dem Ersten Weltkrieg herrschte hohe Arbeitslosigkeit, und das Geld war knapp. Manche hatten auf eine völlig Veränderung hin zu einem sozialistischen Staat gehofft, und Charlie hatte einmal eine wundervolle Rede von einem Mitglied der sozialistischen Fabier-Gesellschaft namens Carpenter gehört. Aber wie die meisten Londoner Arbeiter war Charlie eher skeptisch. »Ich bin nicht so für eine Revolution«, meinte er, »aber ich hätte gerne höhere Löhne und bessere Bedingungen für die Arbeiter.«
Nur einmal hatte er an einem Streik teilgenommen, dem großen Generalstreik im Jahr 1926. Alle Gewerkschaften hatten sich mit den Bergarbeitern solidarisiert, die unter übelsten Bedingungen arbeiten mußten. Damals war er Busfahrer auf der Linie 137, die von der Londoner Stadtmitte nach Crystal Palace ging. Am Tag vor dem Streik waren zwei Brüder in seinem Bus dorthin gefahren, der eine Schneider, der andere Angestellter. »Wenn ihr streikt, dann gehen wir zu Fuß zur Arbeit«, sagten sie zu ihm. »Uns haltet ihr nicht auf.« Wenn schon die Schneider und Angestellten gegen die Streikenden waren, dachte Charlie, würde man wohl nicht weit kommen. Smarte junge Leute aus der Oberschicht trugen auch einiges dazu bei, den Generalstreik zu brechen, der keine zehn Tage anhielt.
Langsam jedoch gab es Verbesserungen. Moderne Fabriken wie Hoover oder die Ford-Motorenwerke östlich von London brachten der Hauptstadt Arbeitsplätze und stabile Löhne. Die Häuser wurden elektrifiziert, Landstraßen geteert, und es gab immer mehr Autos. Nach und nach kam der Fortschritt.
An diesem Septembermorgen bogen die Feuerwehrmänner am südlichen Ende der Tower Bridge ab und fuhren die Themse entlang. Das Gefährt, wie die meisten Feuerwehrautos während des Blitzkrieges, war ein Taxi. In Form und Größe waren diese
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