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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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weil er von den deutschen Truppenbewegungen berichtet hat, die er gesehen hat. Diese Politiker, die das wissen, glauben entweder, die Öffentlichkeit könnte die Wahrheit nicht ertragen, oder sie haben sich eingeredet, sie hätten mit Hitler eine Übereinkunft getroffen. Es ist ein Skandal! Und daß Deutschland angeblich zwanzig Jahre lang keinen Krieg führen kann, basiert auf einem erstklassigen Bericht des Kriegsministeriums – geschrieben 1919.«
    Danach begann Helen Informationen zu sammeln. Freunde in der Armee, ein Diplomat, den sie kannte, selbst ein paar Gleichgesinnte in Westminster nannten ihr Fakten, die die Vorwürfe ihres Bruders bestätigten. Sie und Violet stellten ein detailliertes Dossier zusammen. Manche ihrer Freunde hielten sie für ein wenig verrückt. Bei den anderen Sekretärinnen in Westminster wurde ihre Sache als »Helens Kreuzzug« bekannt, und sie fand bald heraus, daß manche von ihnen Verwandte im diplomatischen Corps hatten, die ähnlich dachten. »Ihr solltet genau wie ich mit eurem Chef darüber reden«, meinte Helen oft. »Immerhin sitzt er im Parlament, und ihr seht ihn jeden Tag.« Einmal versuchte sie sogar, mit dem Premierminister selbst zu sprechen. Als es 1936 zum Thronverzicht kam und jeder über den neuen König und Mrs. Simpson redete, zuckte Helen die Schultern. »Wenn Hitler eine Invasion plant, macht das wohl kaum etwas aus.«
    »Sie hetzen die anderen Sekretärinnen auf«, sagte ihr Chef. »Ich verlange, daß Sie damit aufhören.«
    »Ich kann nicht«, erwiderte sie. So verlor sie ihre Stelle und fand in Westminster auch keine neue. Sie beschloß zu reisen und verbrachte ein paar Monate auf dem Kontinent, vor allem in Deutschland. Sie wollte ein Buch darüber schreiben, aber schon einen Monat nach ihrer Rückkehr begann die große europäische Krise, und das Land ging auf einen Krieg zu, so wie sie befürchtet hatte. Bei Kriegsbeginn meldete sie sich freiwillig, um einen Krankenwagen zu fahren. Es war gefährlich, aber das machte ihr nichts aus. »Ich habe keine Familie, Mutter«, sagte sie. »Wenn schon jemand umkommen muß, kann es ebensogut ich sein.«
    Nie zuvor hatte London so etwas wie Hitlers furchtbaren Blitzkrieg erlebt. Viele hatten prophezeit, ein Krieg mit modernen Waffen würde das Ende der Welt bedeuten, und Helen dachte, wenn er entsprechend lange anhielt, würde die ganze Hauptstadt eine Ruine sein. Aber darüber dachte sie nicht nach, wenn sie bei ihrer Arbeit war.
    Als der Regen nachließ, trat sie wieder aus dem Hotel und beschloß, durch den Hyde Park an der Albert Hall vorbei in die Kensington Gardens zu gehen. Dieser Park mit seinen stillen Alleen und den weitläufigen Rasenflächen hatte in vieler Hinsicht seine Atmosphäre aus der Zeit der Stuarts und des achtzehnten Jahrhunderts bewahrt. Als Helen den kleinen Kensington-Palast aus Backstein erblickte, konnte sie sich fast vorstellen, daß jeden Augenblick eine Pferdekutsche aus der Anlage herausgerollt kam. Doch zu offensichtlich waren die profanen Spuren des Krieges im zwanzigsten Jahrhundert. Überall waren Gräben, daneben Flakgeschütze. Als sie zu dem offenen Gelände beim runden Teich in der Mitte der Gärten kam, sah sie am Himmel Dutzende von Sperrballons. Am unpassendsten wirkte ein großer Abschnitt der Rasenfläche, den man in ein riesiges Kohlfeld verwandelt hatte. »Graben für den Sieg!« hatte man den Londonern gesagt. Während des Krieges sorgte man für Lebensmittelvorräte, auch wenn man jeden Zentimeter des Parks zu einem Schrebergarten machen mußte. Es war Zeit zum Umkehren. Helen seufzte. Sie bedauerte es, daß sie das alles vielleicht nicht mehr sehen würde.
    ABEND
    Obwohl der riesige Kristallpalast vor vier Jahren abgebrannt war, nannte man das Viertel immer noch Crystal Palace. Von Percys und Jennys kleinem Garten blickte man über ganz London. Gemeinsam mit Herbert und Maisie sahen sie auf die ferne Silhouette von Hampstead. Der Himmel im Westen war rot, ein Omen für das, was kommen sollte. Von der Themsemündung im Osten her breitete sich die Dunkelheit aus. In der Metropole war strenge Verdunkelung angeordnet, das sonst übliche Funkeln von Millionen kleiner Lichter fehlte.
    Sie waren nur zu viert. Herbert und Maisie hatten keine Kinder; Percys und Jennys Sohn war beim Militär, die Tochter war verheiratet und lebte in Kent. Obwohl Maisie und Jenny sich nie sehr nahe gekommen waren, hatten sie doch gelernt, sich zu vertragen, und heute nachmittag hatten sich die

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