London
weltweite Zahl der Toten innerhalb eines halben Jahres war höher als die der Gefallenen im Krieg. In England schätzte man mehr als zweihunderttausend Tote. Einer davon war Henry.
Die Erinnerung an diesen Winter war seither zu einem grauen Nebel verblaßt, aus dem sich sein bleiches, zerfurchtes Gesicht deutlich abzeichnete, um sie zu quälen. Wieder und wieder über all die Jahre hinweg hatte Violet sich gefragt, ob sie die Demonstrationen nicht den anderen hätte überlassen sollen. Warum hatte sie dem Sohn, der nun tot war, solchen Schmerz bereitet? Während sie allein im Haus saß, kam es sie hart an, mit dem Gedanken fertig zu werden, den sie ihrer Tochter nicht anvertraut hatte. Nicht nur Helen hatte ihre Vorahnungen, sondern auch Violet.
Helen ging über den Sloane Square in die Sloane Street in Richtung Knightsbridge und Hyde Park. Es war immer noch seltsam, die vertrauten Straßen zu betrachten, an die sie sich noch als Debütantin erinnerte, und alle Fenster gegen Bombenangriffe verhängt, die Sandsäcke neben jeder Tür zu sehen. Als sie an der Pont Street vorbeikam, fing es ein wenig an zu tröpfeln, und bis sie sich Knightsbridge näherte, war es schon ein Schauer. Sie huschte links in das Hotel in der Basil Street, um den Regen abzuwarten, und sah aus dem Fenster.
Sie wollte nicht sterben. Sie hatte nicht das Gefühl, daß sie es verdiente. Hatte sie nicht zumindest ihr ganzes Leben lang versucht, sich einem Ziel zu widmen? Sie hatte immer gewußt, daß ihre Mutter recht hatte, einer Sache zu dienen, egal, was die anderen sagten. Als sie als Kind nach Bocton gebracht wurde, hatte ihr Großvater vorzugeben versucht, ihre Mutter sei irgendwie fortgerufen worden, aber Helen wußte von ihren Brüdern, daß ihre Mutter im Gefängnis war. Das hatte nichts an dem Respekt geändert, den sie für den alten Mann fühlte; abgesehen von seinem Zerwürfnis mit ihrer Mutter waren seine Ansichten wohl ganz vernünftig. Da er sonst niemanden hatte, mit dem er sprechen konnte, hatte er manchmal, wenn sie im Garten saßen, mit dem kleinen Mädchen über die Tagesfragen geredet. Selbst jetzt noch hörte sie seine Stimme. »Die Sozialisten sind die wahre Gefahr für uns alle, Helen, viel mehr als die Deutschen. Diesen Kampf wirst du erleben. Und nicht nur in England, sondern auf der ganzen Welt.«
Wäre er nicht vor Kriegsende gestorben, hätte er noch erlebt, wie richtig seine Worte waren. Die Bolschewiken. Die russische Revolution. Helen ging noch zur Schule, als der Zar und all seine Kinder getötet wurden. Als die Greuel des Krieges und das Elend der großen Grippeepidemie vorbei waren, sprach man bei jeder ernsthaften Unterhaltung von der bolschewistischen Gefahr. Konnte der Bolschewismus auch nach England kommen und alles zerstören, was sie liebte?
In gewisser Weise hatte in der englischen Gesellschaft bereits eine Revolution begonnen. Die von Lloyd George eingeführte Erbschaftsteuer hatte die Oberschicht schwer getroffen. Als Edward in Bocton starb, hatten sie eine große Summe zahlen müssen. Zahlreiche niedere und hohe Adlige waren zum Verkauf gezwungen. Die Regierungskoalition aus der Kriegszeit hatte weiterbestanden, mal stärker, mal schwächer, aber mit dem großen Unterschied, daß die von den Gewerkschaften unterstützte Labour Party enorm dazugewonnen hatte, als die Truppen, die das Wahlrecht noch nicht so lange besaßen, zurückkehrten und eine bessere Nachkriegsgesellschaft forderten. 1924 war Ramsay MacDonald, Vorsitzender der Labour Party, sogar kurzzeitig Premierminister und bildete eine Regierung. »Wenn es keine Revolution gibt, werden wir einfach so enteignet«, hatte Violet vorausgesagt.
Manche ignorierten das Ganze einfach. Der Krieg war vorbei. Für viele von Helens Freunden lag aber auch ein Hauch von Abenteuergeist in der Luft. Die Überlebenden waren froh, daß sie noch lebten, und andere, wie Helens Bruder Frederick, die noch zu jung zum Kämpfen gewesen waren, wollten sich selbst beweisen, indem sie etwas Gewagtes unternahmen.
Helen war Debütantin gewesen. Sie begriff, daß ihre Mutter nach dem Kummer um Henrys Tod entschlossen war, ihren beiden anderen Kindern eine schöne Zeit zu verschaffen. Sie hatte sich gefragt, ob ihre Vergangenheit als militante Suffragette die anderen Mütter gegen sie aufgebracht haben könnte, aber anscheinend war das alles vergessen. Außerdem betrachtete man den attraktiven Frederick Meredith als Gewinn für jede Gesellschaft, vor allem bei dem
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