London
Männermangel nach dem Krieg. Natürlich hatte es die traditionellen Bälle gegeben, aber die Debütantinnen von 1920 waren weniger sittsam als die Generation ihrer Mütter. Junge Männer konnten sich Freiheiten herausnehmen, die zuvor fast undenkbar gewesen waren. Helen kannte kaum Mädchen, die »bis zum Letzten« gingen, aber das hieß nicht, daß sie nicht sehr weit gingen. Sie war hübsch – sie hatte das gute Aussehen ihres Vaters und war blond und blauäugig wie ihre Vorfahren der Familie Bull. Zudem war sie lebhaft und intelligent. Am Ende der Saison hatte sie drei Heiratsanträge, aber die jungen Männer reizten sie nicht. »Du hast dir ja auch einen interessanten Mann ausgesucht«, erklärte sie Violet.
Aber wo sollte sie einen finden? Da war der Franzose, den sie durch Frederick kennengelernt hatte. Frederick hatte zu fliegen begonnen und war mit ihr über den Ärmelkanal nach Frankreich geflogen, und dort war sie dem Mann begegnet. Er besaß ein Flugzeug und ein Schloß. Sie hatte einen wunderbaren Sommer verbracht, aber dann war es vorbei. Seither hatte es noch andere Männer gegeben. »Aber die interessanten Männer heiraten anscheinend nicht«, hatte sie ihrer Mutter traurig gestanden. Was sollte sie mit ihrem Leben anfangen?
»Du bist immer noch ein flapper, Helen«, neckte Frederick sie liebevoll. Flapper – so nannte man die lebenslustigen, unkonventionellen jungen Mädchen der zwanziger Jahre. »Immer auf der Suche nach Aufregung.«
»Warum nicht?« fragte sie. »Du doch offensichtlich auch.« Frederick, der eine Laufbahn beim Militär eingeschlagen hatte, war jeder Zoll der schneidige Husar. Aber Helen ging es nicht nur um Aufregung. Sie wollte sich einer Sache widmen.
Der Generalstreik von 1926 schien eine solche Gelegenheit zu bieten. »Das ist die Revolution, auf die diese Bolschewiken gewartet haben«, verkündete Violet. »Wir müssen sie schlagen.« Wie hatten sie in diesen aufregenden Tagen gearbeitet! Helen war Schaffnerin in einem Bus, den ein junger Mann aus Oxford fuhr. Sie hatten die Linie 137 vom Sloane Square zum Crystal Palace. Andere Leute steuerten die UBahn und verrichteten die übrigen öffentlichen Dienste. Gewalt gab es kaum, und der Streik wurde gebrochen. Das ganze Land lehnte die kommunistische Gefahr ab.
Danach fand Helen eine Stelle als Sekretärin eines Abgeordneten. Es war harte Arbeit, aber es machte ihr Spaß, und sie hatte das Gefühl, etwas Nützliches zu tun. Aber wenn es um die größeren Fragen ging, fühlte sie sich zunehmend enttäuscht. Sie begeisterte sich für das Ziel des Völkerbunds, die Welt von Krieg zu befreien – und sah es scheitern. Sie beobachtete bewundernd, wie Amerika mit dem New Deal auf die Wirtschaftskrise reagierte. Doch von der Mutter der Parlamente kamen keine großen Initiativen für eine neue Welt. Unter dem populären, aber wenig inspirierenden Premierminister Baldwin schien es nur eine Strategie zu geben: das britische Empire aus allen Problemen herauszuhalten. Helens leidenschaftliche Natur rebellierte insgeheim. »Du hattest eine Sache, für die du gekämpft hast«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Ich nicht.« Frederick verhalf ihr dazu.
Als Hitler in Deutschland an die Macht gekommen war, hatte Helen wie viele Menschen in der westlichen Welt gedacht, das sei wahrscheinlich eine gute Sache. »Seine Anhänger sind unerfreulich«, gab sie zu, »aber er ist anscheinend ein Bollwerk gegen das kommunistische Rußland.« Als er seine Herrschaft festigte und sich häßliche Gerüchte über die Art seines Regimes verbreiteten, reagierte sie mit Vorbehalt darauf. Als der politische Polterer Churchill, der immer noch enttäuscht darüber war, nicht mehr im Amt zu sein, seine Kampagne für eine Wiederbewaffnung begann, glaubte Helen ihrem Abgeordneten. »Churchill ist verrückt«, sagte dieser. »Deutschland kann zwanzig Jahre lang keinen Krieg führen.«
Während eines seiner Besuche in London belehrte Frederick sie eines Besseren. Er war als Militärattache zur britischen Botschaft in Polen geschickt worden, und seine Einschätzung war schonungslos. »Erstens, Churchill hat recht. Hitler rüstet auf und hat vor, Krieg zu führen. Zweitens ist das nur für die Engländer zu Hause eine Neuigkeit. Jede Botschaft in Europa weiß Bescheid. Jeder Militärattache, mich eingeschlossen, hat detaillierte Berichte geschrieben, die London geflissentlich ignoriert. Unser Attache in Berlin, ein hervorragender Mann, hat eben seine Stelle verloren,
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