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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Rennen sogar vor das Pferd des Königs und kam um. Eine Woche später wurde Violet bei einer Demonstration erneut verhaftet. Drei Monate Gefängnis, aber zusammen mit einem Dutzend anderer Frauen, die sie kannte. Welche Kameradschaftlichkeit hatten sie empfunden! Bald nach ihrer Freilassung wurden sie wieder verhaftet – sechs Frauen, entschlossen in ihrem Kampf gegen eine grausame Ungerechtigkeit.
    Henry hatte sie besucht. Eine Woche später waren sie in Hungerstreik getreten. Sie hatte nie gewußt, wie wirklicher Hunger sich anfühlte. Und die furchtbare Zwangsernährung – die kräftigen Hände, die einem den zusammengebissenen Mund aufrissen; der grausame Schlauch, den man ihr in den Hals steckte, ihre erstickten Schreie, der brennende Schmerz in der Kehle, der blieb, bis sie wiederkamen. Beim dritten Mal war sie in Ohnmacht gefallen.
    Als man sie schließlich, physisch gebrochen, aus dem Gefängnis entließ, war es ein Schock zu begreifen, daß das Land auf einen Krieg zuging. Deutschland mochte nun ein mächtiger Konkurrent Großbritanniens sein, aber man hatte immer gemeint, die beiden Länder seien geborene Freunde. Der englische König und der deutsche Kaiser waren Cousins. Deutschland mochte neiderfüllt und aggressiv sein, die politische Situation in Mitteleuropa ein Pulverfaß, aber irgendwie würde man schon alles wieder in Ordnung bringen. Wer hätte vorhersehen können, daß sich die europäischen Mächte in einem Durcheinander von Mißverständnissen und verfahrener Diplomatie in eine Situation manövrieren würden, in der sie gezwungen waren, einen Krieg zu erklären, den keiner wollte? Und wer hätte nicht gemeint, daß die ganze dumme Angelegenheit in ein paar Monaten vorbei sein würde?
    Sie dachte an den Juli 1914, nur eine Woche, bevor der Krieg erklärt wurde. Henry sollte in diesem Herbst nach Oxford gehen, und zu diesem Zeitpunkt hatte niemand geglaubt, ein Krieg könne das verhindern. Seit Violets Freilassung gab es in der Familie einen Waffenstillstand. Ihr Vater war nun schon sehr alt, entsetzt über ihre Behandlung im Gefängnis, und wollte nur noch, daß die Familie in Frieden lebte. Sie waren alle vereint in Bocton, und Violet fuhr nur selten nach London. Einmal nahm sie alle drei Kinder mit ins Britische Museum. Aber ihr wurde der Eintritt verweigert.
    »Es tut mir leid, Madam«, erklärte der Pförtner, »aber Ladys dürfen nicht hinein. Wegen dieser gräßlichen Suffragetten. Wir haben Angst, daß sie die Glasvitrinen einschlagen könnten.«
    »Ich bürge für diese Lady«, bot Henry an, und so hatte der Pförtner sie nach einigem Zögern eingelassen.
    Einen Monat später hatte sich Henry freiwillig gemeldet und war in Uniform. Was Senfgas anrichten konnte, erkannte Violet, als er 1915 nach der Schlacht von Ypern als Invalide entlassen wurde. »Ich sollte wohl froh sein, daß ich noch lebe«, hatte er bitter gesagt. Aber er war nur noch ein Schatten seiner selbst, grau und fast leblos. Und so war er während all der Jahre des Weltkriegs geblieben, während andere in der Sinnlosigkeit des Stellungskrieges ihr Leben ließen. Violet kannte am Ende kaum noch eine Familie, die niemanden verloren hatte.
    Der Krieg brachte eine weitere große Veränderung. Es herrschte solche Männerknappheit in der Heimat, daß Frauen deren Arbeiten übernahmen. Sie arbeiteten in den Munitionsfabriken, bei der Eisenbahn, standen hinter Schaltern, bedienten die Telefonleitungen, schufteten und gruben. Die Suffragetten hatten ihre Kampagne während der Kriegszeit aufgegeben, und bald schien ihr Dienst an der Sache für sich zu sprechen. Als man sah, was die Frauen zustande brachten, schmolz selbst die Opposition der härtesten Konservativen dahin. Der alte Edward erkrankte und mußte für ein paar Tage ins Krankenhaus. »Alles ist von Frauen geleitet worden, Violet!« erzählte er danach. »Träger, Ambulanzfahrer, alles. Und gut haben sie es gemacht.« Da wußte sie, daß ihre Sache gesiegt hatte.
    »Sie haben es verdient«, erklärte Premierminister Asquith 1917, als den Frauen das Wahlrecht zugesprochen wurde. Im folgenden Jahr endete der Erste Weltkrieg – und damit das schreckliche Massensterben, dachte Violet.
    Es läßt sich schwer sagen, ob die große Grippeepidemie Ende 1918 gefährlicher war als andere Grippen oder ob die Menschen nach dem langen Kriegstrauma einfach weniger Widerstandskräfte besaßen, aber sie verbreitete sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit über die ganze Welt. Die

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