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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Wasser. »Ich will kein Sklave sein!« sagte er nur, und damit beendeten sie dieses Gespräch.
    Bald dachte er über andere Dinge nach. Ein paar Tage nach ihrem Ausflug flußaufwärts gingen ein paar Männer zum Fischen hinüber zu der kleinen Halbinsel am Südufer, und weil Offa schwer gearbeitet hatte, durfte er mitkommen.
    Es war eine ausgezeichnete Stelle zum Fischen. Die Landzunge ragte ziemlich weit in die Themse hinein und war mit vielen Büschen und kleineren Bäumen bewachsen, so daß die Fischer sich dahinter gut verstecken und von dort aus ihre Netze und mit Ködern versehene Leinen auswerfen konnten. Im klaren Wasser sah Offa viele silbrige Fische umherschwimmen. Doch noch mehr erregte ihn der Anblick auf der gegenüberliegenden Flußseite. Vor ihm tat sich die große, verfallene Zitadelle auf, die einst Londinium gewesen war. Zwar war die Mauer am Flußufer, die die letzten Bewohner der Stadt errichtet hatten, schon ziemlich verfallen, doch die ursprüngliche, dem Land entgegengebaute Stadtmauer stand noch da, und innerhalb dieser großen Umfassung lagen die gespenstischen Ruinen auf den zwei Hügeln.
    »Ein merkwürdiger Ort«, sagte einer der Männer, der seinem Blick gefolgt war. »Es heißt, daß Riesen ihn errichtet haben.«
    Offa sagte nichts. Er wußte es besser. Erst vor vier Generationen hatte seine Familie die aufgegebene Stadt verlassen. Und obwohl er nur sehr ungenaue Vorstellungen über das Aussehen einer solchen Stadt hatte, wußte er doch, daß sie sicher einmal sehr groß gewesen war und in ihr viele herrliche Steinhäuser gestanden haben mußten. Und noch etwas wußte er. Es war zwar nur eine Familienlegende, aber dreihundert Jahre lang war diese faszinierende Botschaft weitergereicht worden. »Mein Großvater hat immer gesagt, daß es in der großen Stadt zwei Hügel gibt«, hatte Offas Vater ihm erzählt. »Und auf dem westlichen Hügel liegt ein riesiger Goldschatz vergraben, den nie einer gefunden hat.«
    Und nun lag sie direkt vor ihm, die Stadt auf den zwei Hügeln. Während die Männer fischten, nahm er das Boot und fuhr heimlich hinüber.
    Londinium stand seit mehr als hundert Jahren leer, doch die einstürzende Stadtmauer mit ihren roten Querstreifen war noch immer groß und eindrucksvoll. Die beiden westlichen Stadttore gab es auch noch. Über Offa, auf dem Gipfel des einen Hügels, lag der große steinerne Kreis des Amphitheaters, das auf der einen Seite völlig eingestürzt war. Der Fluß an der Westseite des Hügels hatte jetzt einen sächsischen Namen, Fleet, und weiter flußaufwärts hieß er Holborn. Offa ging den Hügel hinauf und betrat die Stadt durch das eine noch erhaltene Tor.
    Er kam in eine Geisterstadt. Vor ihm erstreckte sich die breite römische Durchgangsstraße, die inzwischen mit Gras und Moos bewachsen war. Offa besuchte kurz die hochgelegene Fläche an der südöstlichen Ecke der Stadt, zog sich jedoch rasch wieder zurück, als er auf die Raben stieß. Er folgte dem Bächlein zwischen den beiden Hügeln bis zu dem Punkt, an dem es unter der nördlichen Mauer der Stadt hindurchfloß. Offa kletterte auf die Mauer hinauf und sah, daß in dem brachliegenden Gebiet an der Nordseite der Stadt ein großes Sumpfgebiet entstanden war, weil die römischen Wasserleitungen unter der Mauer wohl inzwischen völlig verstopft waren.
    Dann ging er wieder zum Fluß hinab. Über etwas wunderte er sich: Das stille Wasser des Flusses strömte über den Rand der verfallenen Piers, die doch eigentlich über die Wasseroberfläche hinausgeragt haben mußten. War die Stadt im Lauf der Zeit gesunken, oder war der Fluß gestiegen?
    Seine Beobachtung traf durchaus zu. Zwei Dinge hatten zusammengearbeitet, um dieses Phänomen hervorzurufen. Zum einen schmolz die arktische Eiskappe und ließ sämtliche Gewässer leicht ansteigen. Zum anderen senkte sich durch die stete Bewegung der Erdkrustenplatten die südöstliche Seite der britannischen Insel allmählich immer weiter nach unten ins Meer hinein. Diese beiden Faktoren führten dazu, daß der Wasserstand der Themse nahe ihrer Mündung alle hundert Jahre etwa zwanzig Zentimeter anstieg.
    »Aber wo steckt dieses Gold?« fragte Offa laut, als ob die leere Stadt es ihm sagen könnte.
    Er erforschte die Reste des Mithrastempels, kehrte zum Forum zurück und lief dann auf der oberen der beiden großen Durchgangsstraßen quer durch die Stadt bis zum westlichen Hügel. Er kam an verfallenen Kolonnaden vorbei, betrachtete neugierig

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