Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
wieder weg.
    Eine Woche später erhielt Elfgiva ein Omen. Sie war mit ihrem Jüngsten, Wistan, auf einem Ausritt, und zwar stromaufwärts zu der Insel neben der Furt. Diese Stelle mochte sie sehr. Die kleine römische Villa auf der Insel des alten Druiden war verschwunden, der Boden bis auf einen schmalen Weg zur Furt hinunter wieder völlig von Dornengestrüpp überwuchert, so daß die Sachsen sie »Thorney« nannten.
    Es war ein herrlicher Tag mit einem strahlend blauen Himmel, obwohl ein ziemlich kühler Wind wehte. Elfgiva hatte sich in ihren schweren, braunen Wollumhang gehüllt. An ihrer erhobenen linken Hand trug sie einen dicken Lederhandschuh, auf dem ein Raubvogel saß. Sein Kopf war mit einer Kappe abgedeckt.
    Wie viele angelsächsischen Frauen aus ihrer Schicht ging Elfgiva gern auf die Falkenjagd. Auf Thorney ließ es sich meist gut jagen. Außerdem schätzte sie Wistan um sich. Er war erst sechzehn, doch von allen ihren Söhnen war er ihr am ähnlichsten. Wenn seine Brüder auf die Jagd gingen, gesellte er sich oft gutmütig zu ihnen, doch er konnte sich ebensogut einfach still hinsetzen und an einem Holzstück schnitzen. Sie vermutete, daß er sie am innigsten von allen vieren liebte; sie wußte außerdem, daß ihn die Glaubensfrage sehr beschäftigte, während die anderen drei nur widerspenstig waren. Deshalb nutzte sie nun die Gelegenheit, ihn zu drängen: »Gehorche deinem Vater, Wistan. Es ist deine Pflicht!« Auf seine Antwort hin: »Ich werde es tun, wenn du es tust«, schüttelte sie traurig den Kopf. »Das ist nicht dasselbe. Ich bin älter.«
    Auf Thorney angekommen, nahm Elfgiva dem Falken die Kappe ab. Er flog sofort hinauf in den weiten Himmel, wobei er den Wind nutzte wie ein Segel auf See. Dann stürzte er sich auf seine Beute hinab. Als Elfgiva das glücklose Opfer in den Klauen des Falken flattern sah, verstand sie plötzlich etwas, das sie sehr traurig stimmte: Der Falke in der Luft war frei, so frei, wie es Cerdic auch war. Selbst wenn die Frage des neuen Gottes mehr als nur ein Vorwand war, sich von ihr abzuwenden, so machte dies keinen Unterschied. Etwas war in ihm vorgegangen. Er hatte einen Schritt von ihr weg in die Freiheit unternommen. Selbst wenn ich jetzt nachgebe, dachte sie, wird er in einem oder zwei Jahren einen anderen Vorwand finden. Oder er wird mich behalten, aber sich jüngere Frauen nehmen. Ich werde zugrunde gehen wie dieser Vogel in den Klauen des Falken, und zwar nicht, weil Cerdic grausam ist, sondern weil er, wie der Falke, einfach nicht anders kann. Dies war w yrd. Was sollte sie also tun? Standhaft bleiben. Wenn er sie wegen ihrer Treue zu den Göttern verstoßen würde, dann konnte sie zumindest noch ihre Würde bewahren. Auf dem Heimritt bedrängte sie Wistan ein weiteres Mal: »Was auch immer geschehen mag, versprich mir, daß du deinem Vater gehorchst!«
    Zehn Tage nach Offas Ankunft in Lundenwic fuhren Wistan und einer seiner Brüder mit einem Boot ein paar Meilen stromaufwärts, um von einem Bauern Vorräte abzuholen, und nahmen Offa mit. Bald, nachdem sie die Biegung an der Furt hinter sich gelassen hatten, verbreiterte sich der Fluß, und sie kamen an mehreren sumpfigen Inseln vorbei. Offa war beeindruckt von der Fruchtbarkeit, die sich hinter den Sumpfgebieten auf den Wiesen, Weiden und den weiter dahinter liegenden sanften Hügeln zeigte. »Geht das noch lange so weiter?« fragte er Wistan.
    »Ja, wohl bis zum Ursprung des Flusses.«
    Am Abend nach ihrer Rückkehr meinte Offa zu Ricola: »Ich glaube, wir könnten fliehen, flußaufwärts, dort läßt es sich anscheinend sehr gut leben.«
    Doch Ricola widersetzte sich ihm. Trotz ihrer Jugend hatte sie einen starken Hang zur Eigenständigkeit, der Offa durchaus gefiel. Deshalb nahm er auch an, daß sie ebenso erpicht auf die Freiheit sein würde wie er. Aber er täuschte sich.
    »Du bist wohl verrückt«, sagte sie. »Warum willst du in den Wäldern umherirren? Um dich von den Wölfen auffressen zu lassen?«
    »Dort sind keine Wälder«, sagte er. »Es ist nicht so wie in Essex. Und hier sind wir nur Sklaven.«
    »Na und? Wir haben es doch gut hier! Wenn wir wegrennen, sind wir auch nicht frei. Wir sind nur vogelfrei. Ehrlich gesagt finde ich es gar nicht so schlecht, hier Sklavin zu sein. Du etwa?«
    Er mußte zugeben, daß sie mit ihren praktischen Argumenten nicht ganz unrecht hatte. Dennoch spürte er auch, wie wichtig ihm die Unabhängigkeit war. Sie war ihm so lebensnotwendig wie dem Fisch das

Weitere Kostenlose Bücher