London
eingestürzte Häuser, steckte den Kopf in enge Gassen, in denen nun Büsche und kleine Bäume wuchsen, und suchte überall nach einem Hinweis auf den Schatz. Ab und zu schloß er die Augen und richtete ein Gebet an Woden in der Hoffnung, der Gott würde ihm die Richtung weisen. Dann fiel ihm ein, daß die Leute mit Ruten Wasser suchten. Vielleicht konnte man auf diese Weise auch im Boden liegendes Gold finden? Aber welche Ruten waren dafür geeignet? Schließlich begann es schon zu dämmern. »Ich komme wieder«, murmelte er. »Und zwar so oft ich kann!« Schließlich war dies eine gute Beschäftigung, und außerdem gab er nie auf.
Ricola wollte auch deshalb nicht weg, weil sie sich ihrer Herrin immer verbundener fühlte. Vielleicht kam es daher, weil das Mädchen so ein übles Schicksal gehabt hatte, vielleicht auch, weil Elfgiva immer eine Tochter hatte haben wollen – die ältere Frau fand Gefallen an Ricola. Oft rief sie sie unter irgendeinem Vorwand zu sich, manchmal sollte sie nur neben ihr sitzen, oft sollte das Mädchen ihr die Haare kämmen. Und Ricola tat es gerne.
Da Elfgiva die erste vornehme Frau war, der Ricola je begegnet war, beobachtete sie sie sehr genau. Nicht nur ihr Kleid war anders – ein langes, gegürtetes Gewand anstatt der bescheidenen Tunika einer einfachen Frau –, sondern ihr ganzes Benehmen ließ sie als etwas Besonderes erscheinen. Was war es eigentlich? »Sie kann wütend werden wie ich auch, oder auch lachen«, erklärte das Mädchen Offa, »aber trotzdem ist sie anders. Sie ist eine Lady. Vielleicht kommt es daher, daß sie sich benimmt, als würde sie die ganze Zeit beobachtet werden?«
»Das wird sie wahrscheinlich auch, von allen Leuten, die für den Herrn arbeiten.«
»Das weiß ich, und sie weiß es wahrscheinlich auch. Aber selbst wenn ich allein mit ihr bin, ist sie so. Obwohl sie sich nicht im geringsten darum schert, was ich von ihr halte. Ich bin ja nur eine Sklavin. Aber selbst dann benimmt sie sich so, als würde sie beobachtet. So, als würde ihre Familie sie beobachten. Ihr toter Vater, dessen Vater, die ganze Sippe. Sie verhält sich so, weil sie denkt, sie beobachten sie alle, alle bis hin zu Woden. Sie stecken alle in ihrem Kopf, sind dabei bei allem, was sie tut. So ist das wohl, wenn man eine Lady ist.« Und dann fügte sie noch hinzu: »Es muß schrecklich sein für sie. Der Herr hat ihr etwas Schreckliches angetan. Ich weiß nicht, was es ist, doch sie leidet sehr darunter. Aber weil sie eine Lady ist, ist sie viel zu stolz, um darüber zu sprechen.«
»Na ja, wir können jedenfalls nichts tun«, sagte Offa.
»Nein«, stimmte seine Frau ihm zu. »Aber ich wünschte, es wäre nicht so.«
Ein weiteres Band entwickelte sich zwischen Ricola und ihrer Herrin, als Elfgiva ihr erlaubte, ihr bei einer Tätigkeit beizuwohnen, die das Mädchen noch nie zuvor beobachtet hatte. Selbst damals schon waren die angelsächsischen Damen in England berühmt für ihre Stickereien. Diese Kunst wurde nur von den Frauen aus der Oberschicht ausgeübt, denn die dabei benötigten Materialien waren kostbar und teuer. Am Nachmittag ließ sich Ricola stets verzückt zu Füßen ihrer Herrin nieder, wenn diese ihr Werk nahe an eine Lampe hielt und sich daranmachte, es zu vervollständigen.
»Erst einmal brauchst du ein Stück feingewebtes Leinen«, erklärte Elfgiva. »Manche Frauen am Hof des Königs nehmen sogar Seide. Auf dem Stoff zeichnest du dein Muster auf.« Zu Ricolas Überraschung nahm Elfgiva den Markierungsstift nicht selbst zur Hand, sondern ließ statt dessen Wistan herbeirufen. »Er kann besser zeichnen als ich«, meinte sie.
Und der junge Mann konnte tatsächlich wunderbare Muster zeichnen. Zuerst malte er in der Mitte des Stoffes eine einzige lange, geschwungene Linie.
»Dies ist der Stamm«, verkündete er. Dann ließ er von diesem Stamm kleinere Zweige herauswachsen, und auf diese zeichnete er die Umrisse verschiedener Blätter und Blüten. Als nächstes zeichnete er ein paar Sterne und Querschraffierungen als Verzierung innerhalb dieser Formen. Zum Schluß begann er eine Borte zu entwerfen. Auch diese war meisterhaft. Geometrisch angeordnete Blumen, Vögel, Tiere, alle möglichen heidnischen und magischen Symbole erschienen auf dem Stoff. Von der Innenseite der Umrandung aus rankten sich sonderbare Pflanzen mit elegant geschwungenen Blättern und kleine Bäumchen hin zum Rand des mittleren Musters, als wollte er damit sagen: Kunst ist Ordnung, aber die Natur
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