Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
ist immer stärker. Dies war das Wesen des angelsächsischen Geistes und ist es vielleicht auch heute noch.
    Dann spannte Elfgiva das Leinen in einen Rahmen und machte sich an die langsame Arbeit des Stickens. Sie arbeitete mit Bronzenadeln und füllte erst einmal mit verschieden gefärbten Seidenfäden die Blätter aus. »Wenn die Friesen hier ihre Sklaven abholen, bringen sie mir immer Seide aus dem Süden mit«, erklärte sie. Doch sie verwendete auch Goldfäden, und an manchen Stellen stickte sie winzige Perlen auf. Dann nahm sie eine dicke, grüne Seidenkordel und legte sie auf die geschwungene Form des Stammes. Diese befestigte sie mit einem Seidenfaden, den sie von hinten immer wieder über die Kordel führte. Zum Schluß stickte sie noch mit bunter Seide einen Rand um alle Grundformen. »Als nächstes machen wir uns an die Borte. Dafür werde ich einige Monate brauchen«, meinte sie schließlich lächelnd.
    Oft durfte auch Ricola einen oder zwei Stiche sticken, und einmal durfte sie sogar Offa mitbringen, um ihm zu zeigen, was sie da taten. Und stets beobachtete Ricola aufmerksam die ältere Frau, bewunderte sie und stellte ihr Fragen über das Leben am Hof oder über das Anwesen in Bocton. Gleichzeitig suchte sie nach Möglichkeiten, sich nützlich zu machen. »Du willst doch, daß wir wieder freikommen«, sagte sie zu ihrem Mann. »Wenn sie uns gern genug hat, könnte sie uns eines Tages die Freiheit schenken. Wir müssen eben geduldig sein und abwarten.«
    Elfgiva verfolgte eine ähnliche Taktik. Sie hatte rasch erkannt, daß sie ihren Schmerz verbergen mußte, auch wenn Cerdic sie zutiefst verletzt hatte. Einen Gatten, der ein Auge auf andere Frauen geworfen hatte, konnte man nur damit halten, daß man ihn so oft wie möglich ins Bett lockte, und genau dies tat sie nun. Sie schmollte nicht, stritt nicht mit ihm, zeigte ihm nicht die kalte Schulter, sondern bemühte sich jeden Abend nach dem Essen darum, ihn zu verführen und zu befriedigen. Oft genug wachten sie morgens eng umschlungen auf, und sie blieb dann ganz still liegen und richtete ein flehentliches Gebet an die Götter ihrer Ahnen. »Laßt mich noch ein Kind bekommen! Gebt mir Zeit! Laßt den Bischof noch nicht kommen!«
    Der November hieß bei den Sachsen Blodmonath, der Monat des Blutes. Blodmonath war, wenn die Ochsen geschlachtet wurden, noch bevor der erste Schnee herabrieselte und nachdem die letzten Blätter zu Boden gefallen waren.
    Am Anfang von Blodmonath kam ein Schiff zum Handelsstützpunkt. Es hatte das Meer von den am Rhein liegenden Ländern der Franken aus kommend überquert. Offa mußte beim Entladen des Schiffes helfen. Zum erstenmal in seinem Leben sah er ein seetüchtiges Gefährt und war begeistert. Zwar hatten die Sachsen stabile Flöße und auch breite Ruderboote, mit denen sie die Themse befahren, doch dieses Schiff war etwas völlig anderes. Das Auffälligste daran war der Kiel. Er schwang sich vom hohen Heck ausgehend in einer anmutigen Biegung hinunter zum Wasser bis zur Mitte des Schiffes, dann erhob er sich wieder bis zu dem großartigen Bug, der stolz über dem Wasser thronte. Wistan stand zufällig neben Offa, als dieser den herrlichen Anblick bestaunte. »Es sieht genauso aus wie die Konturen, die Ihr für Lady Elfgivas Stickerei aufgezeichnet habt«, rief der junge Sklave verzückt, und Wistan stimmte ihm zu.
    Der Schiffsrumpf bestand aus sich überlappenden Holzplanken. Das Schiff hatte nur zwei kleine Decks, vorne und hinten; bis auf diese war es offen. Es hatte einen einzigen Mast, an dem auf einem Querbalken ein Segel gehißt werden konnte. Daneben wurde es von sechs langen Rudern angetrieben, die aus den Seiten herausragten. Es war ein Langschiff aus dem Norden. Mit ähnlichen Booten waren die Sachsen auf die Insel gekommen, und Elfgivas Vater lag unter einem solchen Schiff an der ostanglischen Küste begraben.
    Auch die Fracht beeindruckte Offa: graue Tonwaren, die auf einer Scheibe hergestellt wurden; fünfzig große Krüge mit Wein; und für den Haushalt des Königs sechs Kisten, gefüllt mit einem seltsamen, durchsichtigen Material, das er noch nie gesehen hatte. »Es ist Glas«, erklärte ihm ein Matrose. In der Rheingegend wurden seit der Römerzeit Wein und Glas hergestellt.
    So bekam Offa eine Ahnung von dem großen Erbe auf der anderen Seite des Meeres, einem Erbe, das seine Vorfahren gekannt hatten und das früher die leere, von einer Stadtmauer umgebene Stadt gefüllt hatte, in der er heute so

Weitere Kostenlose Bücher