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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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gerne herumstreifte.
    Ein paar Tage später kam noch ein weitaus wichtigerer Besuch aus der Welt der Römer. Offa war wieder einmal in die leere Stadt geschlichen und hatte eine gute Stunde auf dem Westhügel zugebracht. Da er genügend Zeit hatte, den Ort zu erforschen, hatte er beschlossen, systematisch vorzugehen und sich immer auf einen kleinen Fleck zu konzentrieren.
    An diesem Nachmittag stieß er auf ein kleines Haus mit einem Keller, das etwa in der Mitte des Hügels auf der dem Fluß zugewandten Seite stand. Er versuchte, den Schutt zu beseitigen, da hörte er Stimmen. Oben am Hügelkamm sah er zwei Männer. Einer der beiden, wahrscheinlich der Pferdeknecht, hielt die beiden Pferde fest, während der andere, ein untersetzter Mann mit einer ihm bis zu den Knöcheln reichenden schwarzen Robe, auf und ab lief und offenbar nach etwas suchte. Offa wollte sich eben ducken, um nicht gesehen zu werden, da blickte die schwarzverhüllte Gestalt auf, sah ihn und winkte ihn zu sich. Offa fluchte leise vor sich hin, aber an ein Entkommen war jetzt nicht mehr zu denken. Langsam ging er auf die beiden zu.
    Der Mann in Schwarz war der sonderbarste Mensch, den Offa je gesehen hatte. Er war nicht sehr groß, hatte jedoch ein breites, glattrasiertes Gesicht. Sein Kopf war bis auf einen runden, grauen Haarkranz kahlgeschoren. Er lachte leise.
    »Wie heißt du?« wollte er wissen. Er sprach Englisch, wie die Angelsachsen ihre Sprache nannten, hatte jedoch einen sonderbaren Akzent.
    »Offa, Sir. Und wie heißt Ihr?« fragte der Sklave mutig.
    »Mellitus. Du wunderst dich sicher, was ich hier tue?«
    »Ja, mein Herr.«
    Als Antwort deutete Mellitus auf den Grundriß eines kleinen, rechteckigen Gebäudes, den er mit Steinen auf dem Boden vor sich ausgelegt hatte. »Hier werde ich bauen!« erklärte er.
    »Bauen?«
    »Cathedralis«, erklärte der sonderbare Mann, den lateinischen Begriff verwendend. »Einen Tempel für den wahren Gott«, erläuterte er, als er Offas erstaunte Miene bemerkte.
    »Für Woden?« fragte Offa.
    »Nein, für Christus«, antwortete er schlicht.
    Da verstand Offa, wer der Fremde war, denn er wußte, daß ein Mann aus Canterbury erwartet wurde, ein Bischof, was auch immer dies bedeutete. Jedenfalls ein sehr wichtiger Mann. »Womit wollt Ihr denn bauen, Herr?« fragte er. Er befürchtete schon, daß er eine Menge Holz auf diesen Hügel würde karren müssen.
    »Mit diesen Steinen«, sagte Mellitus und deutete auf die römischen Ziegel und zerbrochenen Fliesen, die überall herumlagen. »Und was tust du hier eigentlich?«
    Offa war sofort wieder sehr zurückhaltend. »Nichts Besonderes, Herr. Ich sehe mich nur ein wenig um.«
    »Suchst du etwas?« Der Mann lächelte, wobei seine freundlichen braunen Augen merkwürdig durchdringend leuchteten, wie Offa bemerkte. »Vielleicht kann ich dir helfen, es zu finden«, sagte er.
    Was wußte dieser Fremde? Plante er hier wirklich nur ein Gebäude, wie er gesagt hatte, indem er, die Augen immer auf den Boden gerichtet, herumlief? Oder wußte er etwas über das vergrabene Gold? Wollte er Offa helfen, es zu finden, oder versuchte er nur herauszufinden, was Offa wußte? Offensichtlich war dieser Bischof ein gerissener Bursche, der mit Vorsicht behandelt werden mußte.
    »Ich muß zu meinem Herrn zurück«, murmelte Offa und machte sich davon, wobei er sich bewußt war, daß Mellitus ihm noch lange nachblickte.
    Warum hatte der Bischof diese verlassene Zitadelle in der Nähe eines abgelegenen Handelsstützpunktes ausgewählt, um seine Kathedrale zu bauen? Dies hatte einen einfachen Grund, der in Rom zu finden war. Der Papst hatte seinen Missionar Augustin mit der Weisung zur britannischen Insel geschickt, sich nur kurz in Canterbury aufzuhalten. Abgesehen von den Möglichkeiten, die die Frankenprinzessin bot, war die Halbinsel Kent für den Pontifex nicht von größerem Interesse. Er wollte die ganze Insel bekehren. Und was wußte er von Britannien? Daß es früher einmal eine römische Provinz war.
    »Die Insel war in verschiedene Provinzen aufgeteilt«, hatten ihm die Archivare erklärt. »Jede Provinz hatte ihre Hauptstadt. York im Norden, Londinium im Süden. Londinium war bedeutender.« Als nun Augustin und seine Kollegen von der Freundlichkeit des Königs von Kent berichteten und einwandten, daß Londinium völlig verlassen sei, kam aus Rom die Weisung: »Laßt dem König in Canterbury einen Bischof zukommen. Doch in York und in Londinium müßt ihr sofort zu bauen

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