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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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als Zeichen dafür, daß das angelsächsische Feuer im Herd so lange glimmte, bis das Frühjahr wiederkehrte, auch wenn die Sonne nicht zu sehen war. Ricola half den Frauen. Zum Yule-Fest würde es Wildbret geben. Aus dem Lager wurden große Krüge mit eingemachtem Obst herbeigeschafft – Äpfel, Birnen, Maulbeeren. Es würde viel getrunken werden, vor allem ein spezielles Getränk, das bei den Sachsen als Most bekannt war und aus Honig und Maulbeersaft gewonnen wurde.
    Elfgiva war unschlüssiger denn je zuvor. Je näher das YuleFest rückte, desto stärker wurden die glücklichen Erinnerungen an diese Jahreszeit. Sie hatte keinen Ort, an den sie gehen konnte. Ihr Mann hatte ihr ein weiteres Mal schroff angeboten, sie zurückzunehmen. Sie wußte nur zu gut, wie stark sein Stolz war. Warum durfte sie nicht auch ihren Stolz, ihre Selbstachtung bewahren? Wenn er mich nur bitten würde, wenn er nur ein wenig Zuneigung oder Reue zeigen würde, dachte sie immer wieder traurig.
    Eines Abends in dieser kritischen Zeit ersann Ricola einen Plan, um ihre Herrin zu retten, einen Plan, der typisch war für die Art und Weise, wie sie das Leben sah: bodenständig, sinnlich, tapfer. Offa war entsetzt, als sie ihm den Plan erläuterte. »Du bist wohl verrückt«, rief er.
    »Aber es wird funktionieren«, beharrte das Mädchen. »Da bin ich mir ganz sicher. Denk doch nur daran, was sie für uns getan hat! Und was haben wir schon zu verlieren?«
    »Alles!« erwiderte er.
    Der Bote von König Ethelbert von Kent kam völlig überraschend. »Bischof Mellitus kehrt wie versprochen zurück, um zu predigen«, verkündete er. »Ihr sollt alle Leute aus der Umgebung zu diesem Ereignis zusammenrufen!«
    »Am Yule-Fest?« rief Cerdic. »Warum denn ausgerechnet am Yule-Fest?«
    Doch er tat, wie ihm befohlen, und als zwei Tage später der Bischof und eine Abordnung von zehn Priestern und zwei Dutzend Edelmännern aus Kent auftauchte, hatte Cerdic zu ihrem Empfang gut hundert Leute aus den Weilern am Fluß versammelt.
    »Morgen werde ich predigen und taufen«, verkündete Mellitus.
    Den Rest des Tages gab es viel zu tun. All die Leute mußten untergebracht werden. In sämtlichen Außengebäuden wurden Strohlager hergerichtet, bis man kaum mehr einen Fuß vor den anderen setzen konnte. Jeder arbeitete tüchtig mit, sogar Elfgiva, die den Haushalt überwachte, wie sie es immer getan hatte, so daß Cerdic sie wieder einmal mit stummer Bewunderung bedachte. Ganze Rinderhälften wurden aus dem Vorratshaus herbeigeschafft. Und als plötzlich Wistan auftauchte und ebenfalls mit Hand anlegte, beschloß Cerdic, ihn einfach zu übersehen.
    An diesem Samstag gegen Mittag betrat Bischof Mellitus in Begleitung von etwa hundertundfünfzig Leuten die leere Stadt und ging den Hügel hinauf zu dem Ort, an dem die zukünftige St.-Paul's-Kathedrale stehen sollte. Vor ihm her wurde ein großes Holzkreuz getragen, das, in den Boden gesteckt, hoch in den Himmel ragte und der Szene auf dem Hügel große Würde verlieh. Bemerkenswert an diesem Kreuz waren die hervorragenden Schnitzereien.
    In der Mitte des Kreuzes starrte der gekreuzigte Christus mit leeren Augen auf die Erde herab. Um die Gestalt des Erlösers herum waren all die geometrisch angeordneten Pflanzen, Vögel, Tiere und wundervoll verschlungenen Muster geschnitzt, die lange schon den Ruhm der angelsächsischen Kunst begründeten und die von nun an, gemeinsam mit den kontinentalen, christlichen Figuren und Symbolen, den Ruhm der angelsächsischen Kirche begründen sollten.
    »Zerstört nicht, was fest verwurzelt ist. Nehmt es auf.« Dies war eine weitere wichtige Regel der Missionare. Genau aus diesem Grund kam Bischof Mellitus zum sächsischen YuleFest nach Lundenwic. Vor einigen Jahrhunderten hatte die Christenkirche sich nach Kräften bemüht, das römische Heidenfest Saturnalia, das in der Mitte des Winters gefeiert wurde und mit einigen Ausschweifungen einherging, zu einem spirituellen, christlichen Fest zu machen. Und der Geburtstag des persischen Gottes Mithras, der 25. Dezember, war zum Geburtstag des Herrn umfunktioniert worden. »Wenn den Angelsachsen so viel am Yule-Fest liegt«, hatte Mellitus seinen Mönchen erklärt, »dann muß Yule eben auch ein christlicher Feiertag werden.«
    Nun stand der Bischof vor seinem Holzkreuz und blickte über die Gemeinde, die sich hier versammelt hätte. Alle waren da; Bauern, Viehhüter, sogar Offa und Ricola sowie Lady Elfgiva waren gekommen, und Cerdic hatte

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