Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
um seine Geldabgaben und Steuern zu zahlen, konnte in die Leibeigenschaft abrutschen.
    Alfreds Familie kannte ihren Status ganz genau. Abgesehen von einem kurzen Zwischenspiel, als ihr Vorfahre Offa einmal Sklave von Cerdic dem Händler war, waren sie immer frei gewesen. Sie lebten aber sehr bescheiden und besaßen nur ein winziges Stück Land, einen einzigen Farthing. »Immerhin zahlen wir eine Pacht in Silbermünzen«, konnte Alfreds Vater stolz behaupten. »Wir schuften uns nicht wie Leibeigene für den Grundherrn ab.« Deshalb trug Alfred, wie jeder freie Mann im Land, stolz das Symbol für diesen kostbaren Status, einen schönen neuen Dolch, am Gürtel.
    Seit zwei Generationen stellte die Familie den Dorfschmied. Schon mit sieben konnte Alfred ein Pferd beschlagen, mit zwölf den Hammer fast so gut schwingen wie sein älterer Bruder. »Ihr braucht nicht groß und stark zu sein«, erklärte der Vater den Söhnen. »Geschicklichkeit, das ist es, worauf es ankommt.« Und Alfred lernte schnell. Die Tatsache, daß er wie sein Großvater die immer wieder in der Familie auftauchenden Schwimmhäute zwischen den Fingern hatte, störte ihn nicht weiter. Mit vierzehn kannte er das Handwerk so gut wie sein zwei Jahre älterer Bruder.
    »Es gibt nicht genug Arbeit für zwei Schmiede im Dorf«, stellte er fest. »Ich bin alle Dörfer in der Umgebung abgelaufen – Windsor, Eton, bis nach Hampton. Es gibt hier nichts für mich zu tun. Ich werde nach London gehen.«
    Er war noch nie in London gewesen. Doch seit er als kleiner Junge das in seiner Familie geflügelte Wort vom Goldschatz gehört hatte, der in London vergraben war, besaß die Stadt eine magische Anziehung für ihn. Als seine Mutter ihn nun fragte, wann er denn losziehen wolle, antwortete er: »Morgen früh!«
    Vielleicht hatte der seltsame Stern ihm doch ein Zeichen gegeben.
    Das Osterfest des Jahres 1066 stand vor der Tür, und im Königreich England herrschte rege Betriebsamkeit. Die sächsische Flotte wurde hastig aufgerüstet, um auf See zu patrouillieren. Wilhelm, der unehelich geborene Herzog von der Normandie, schickte sich an, auf der Insel einzumarschieren. Ritter aus der ganzen Normandie und den angrenzenden Ländern gesellten sich in Scharen zu ihm. »Und das Schlimmste daran ist«, sagte Leofric zu Barnikel, »daß er sogar den Segen des Papstes haben soll.« Andere Abenteurer – die Nordmänner – stellten ebenfalls eine Bedrohung dar. Die Frage war nur noch, wann und wie der erste Schlag fallen würde.
    Eines Morgens in dieser gefährlichen Zeit befand sich Barnikel der Däne auf dem Heimweg von Leofrics Haus. Er hatte gerade den kleinen Bach zwischen den beiden Hügeln überquert, der inzwischen Walbrook hieß, als ein erbärmlicher Anblick seine Aufmerksamkeit erregte. Hier hatte sich früher die untere der beiden römischen Durchgangsstraßen befunden. Zu Barnikels Rechten, am Ostufer des Walbrook, wo früher einmal der Palast des römischen Statthalters gestanden hatte, waren nun die Piers der deutschen Kaufleute. Dort, wo einst die römischen Wachposten patrouillierten, gab es nun eine Reihe von Buden und Werkstätten, die den Kerzenmachern gehörten. Candlewick Street hieß diese Straße. Nur ein einziges merkwürdiges Ding wies auf die ruhmreiche Vergangenheit hin. Aus irgendeinem Grund hatte der alte Meilenstein, der früher am Palasteingang gestanden hatte, wie der hartnäckige Baumstumpf einer uralten Eiche seinen Platz behauptet und stand seit mehr als neunhundert Jahren hier an dieser Stelle. Die Einwohner der Stadt nannten ihn respektvoll London Stone. Genau neben dem London Stone sah Barnikel die erbarmungswürdige kleine Gestalt.
    Seit drei Tagen hatte Alfred nichts mehr gegessen. Seinen schmutzstarrenden Wollumhang fest um sich gewickelt, kauerte er neben dem Stein. Sein Gesicht war blaß, seine Füße taub von der Kälte. Im ersten Monat seines Aufenthalts in London hatte er Arbeit gesucht, jedoch keine gefunden. Im zweiten Monat fing er an, um Essen zu betteln, im dritten wurde er zum Stadtstreicher. Stadtstreicher waren für die Londoner ein ziemliches Problem. Bald würde ihn jemand anzeigen und vor das Gericht zerren. Als er die schweren Schritte hörte, die sich ihm näherten, kauerte er sich noch enger an den kalten Stein. Erst, als eine Stimme ihn ansprach, blickte er auf und sah vor sich den größten Mann stehen, den er je gesehen hatte.
    »Wie heißt du?« Alfred erklärte ihm seinen Namen. »Woher kommst du? Welchen Beruf

Weitere Kostenlose Bücher