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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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Zeuge wurde, wie ein junger Becket mit ihr sprach und beide lachten. »Wie wollt Ihr ihn nur küssen, meine Liebe? Diese Nase ist doch ein unüberwindliches Hindernis. Man muß sie zwar irgendwie bewundern, wie einen Berg. Aber wißt Ihr denn nicht, daß seit Urzeiten keiner aus dieser Familie jemals geküßt worden ist?«
    Er hatte sich abgewandt. Fünfzehn war er damals gewesen. Am darauffolgenden Tag hatte sie ihm die kalte Schulter gezeigt, und ein Jahr später hatte sie den jungen Becket geheiratet. Von da an hatte er seine Heimatstadt zu hassen begonnen.
    Die Jahre unter Eduard dem Bekenner waren eine gute Zeit für ihn gewesen. Er hatte in London geheiratet; seine Geschäfte florierten, er hatte nützliche Freundschaften geschlossen und sich um die St.-Paul's-Kathedrale verdient gemacht. Und er hatte sich einen neuen Namen zugelegt.
    Es war an einem Morgen kurz nach seiner Hochzeit passiert. Er schlenderte an den Marktständen auf dem West Cheap entlang und hielt an einem langen Tisch inne, an dem einige Silberschmiede arbeiteten. Fasziniert beugte er sich über den Tisch, um ihnen zuzusehen. Als er sich schließlich wieder abwandte, rief jemand aus: »Seht mal den dort! Der muß aber reich sein. Er hat silberne Ärmel.«
    Silver sleeves. Er hatte eine Weile darüber nachgedacht und schließlich beschlossen, diesen Namen anzunehmen, der sich nicht auf seine Nase bezog und nach Wohlstand klang. Silversleeves, so konnte nur ein Reicher heißen. »Und bald werde ich mir diesen Namen verdient haben«, hatte er seiner Frau versprochen.
    Er spielte gerne Schach mit Henri. Der Sohn war zwar kein so gerissener Stratege wie sein Vater, aber er war ein meisterhafter Taktiker, dem immer wieder überraschende Lösungen einfielen. Silversleeves hatte zwar auch versucht, seinem jüngeren Sohn Ralph das Spiel beizubringen, doch dieser bekam immer wieder schreckliche Wutanfälle, die Henri leicht indigniert beobachtete. Doch auch wenn der Vater insgeheim enttäuscht war über seinen Jüngeren, zeigte er es nie. Er hatte vielmehr oft das Bedürfnis, seinen tölpelhaften Sohn zu beschützen, und bemühte sich stets, zwischen den beiden Söhnen zu vermitteln. Oft versicherte er seiner Frau: »Sie werden meinen Reichtum brüderlich teilen.«
    Dennoch sollte Henri eines Tages das Geschäft übernehmen. Der junge Mann war jetzt schon bestens vertraut mit allem Wesentlichen, das man über die Weinherstellung, den Transport und die Lagerung wissen mußte, und er kannte auch die Kunden. An diesem Abend wollte Silversleeves ein wichtiges Thema anschneiden. »Ich habe da einen interessanten Fall«, fing er an. »Einen Mann mit Schulden. Wer, glaubst du wohl, ist stärker, jemand ohne oder jemand mit Schulden?«
    »Ein Mann ohne Schulden.«
    »Und angenommen, der Mann schuldet dir eine gewisse Summe und kann sie nicht begleichen?«
    »Dann ist er ruiniert«, erwiderte Henri kühl.
    »Aber dann verlierst du das, was er dir schuldet.«
    »Es sei denn, ich nehme mir alles, was er an Zahlungsmöglichkeiten hat. Nur wenn er nichts hat, verliere ich.«
    »Solange er dir Geld schuldet, fürchtest du ihn also?« Er sah Henri nicken und fuhr fort: »Aber wenn dieser Mann dir eigentlich das zahlen kann, was er dir schuldet, jedoch vorzieht, es nicht zu tun? Dann fürchtest du ihn, weil er dein Geld hat, doch da er eigentlich zahlen könnte, fürchtet er dich nicht. Angenommen, du brauchst das Geld unbedingt, und er bietet dir an, dir weniger zu geben, als das, was er dir schuldet. Würdest du es nehmen?«
    »Vielleicht müßte ich es nehmen.«
    »Natürlich müßtest du das tun. Und so hat er Geld mit dir verdient, oder etwa nicht? Deshalb war er aufgrund seiner Schulden dir gegenüber der Stärkere.«
    »Das hängt davon ab, ob er weitere Geschäfte mit mir machen möchte.«
    Silversleeves schüttelte den Kopf. »Nein, das hängt von vielen Dingen ab. Vom Zeitpunkt, davon, ob ihr aufeinander angewiesen seid und wer die mächtigeren Freunde hat. Es kommt auf die versteckten Bilanzen an, so, wie bei diesem Schachspiel hier. Denk immer daran, Henri: Beim Handel geht es um den Profit, und Gier ist die treibende Kraft. Aber Schulden haben mit Angst zu tun, und Angst ist stärker als Gier. Deshalb ist die wahre Macht, die Waffe, die alle anderen schlägt, die Schuld. Das ist der Schlüssel für alle Geschäfte.« Er lächelte. »Schachmatt!«
    Silversleeves dachte an ein viel wichtigeres Spiel, ein Spiel, bei dem Schulden eine Waffe sein würden und

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