London
entschuldigte sich bei Leofric. Er wollte erst noch seine Geschäftsgespräche zu Ende führen und ließ ihn bei den beiden Söhnen am Feuer stehen. Henri verwickelte ihn sofort in ein höfliches Gespräch und schien einigermaßen angenehm zu sein, doch sein Bruder Ralph wirkte merkwürdig verschlossen und abstoßend. Seine lange Nase wirkte entschieden brutal; seine Augen waren sonderbar verquollen; seine Hände mit den krummen Fingern bewegten sich ungeschickt, während sein Bruder lange, wohlgestaltete Finger hatte.
Einer dieser beiden jungen Männer wollte also seine Tochter heiraten. Leofric war so beunruhigt bei diesem Gedanken, daß er anfangs gar nicht recht verstand, was Henri ihm erzählte. »Ein großer Tag für unsere Familie…«, sagte er eben. »Mein Vater baut eine Kirche.«
Eine Kirche! Jetzt wurde Leofric hellhörig. »Euer Vater stiftet eine Kirche?« Der junge Mann nickte.
Der Normanne mußte tatsächlich sehr reich sein, viel reicher, als Leofric angenommen hatte. Kein Wunder, daß die Priester ihm soviel Achtung entgegenbrachten! Eine Kirche zu bauen – dies war ein sicheres Zeichen, daß es die Familie zu großem Wohlstand gebracht hatte.
Silversleeves hatte ein Stück Land unterhalb seines eigenen Anwesens erworben. Ein guter Platz an der Watling Street, oberhalb einiger Lagerhallen für Wein, die als Vintry bekannt waren. »Die Kirche soll St.-Lawrence geweiht werden«, erklärte Henri. »Und da es in der Nähe schon eine St. Lawrence-Kirche gibt, wird sie wohl St. LawrenceSilversleeves heißen.« Der Brauch, mit einem Doppelnamen sowohl an einen Heiligen als auch an den Stifter der Kirche zu erinnern, setzte sich allmählich bei vielen Londoner Kirchen durch. An ebendiesem Tag, erklärte der junge Mann, habe eine andere Weihe stattgefunden: die des Kaufmanns höchstpersönlich. »Mein Vater hat die Priesterweihe empfangen«, sagte Henri stolz. »Nun kann er in der Kirche den Gottesdienst leiten.«
Dies war nichts Ungewöhnliches. Unter der Herrschaft Eduard des Bekenners war die englische Kirche völlig verkommen. Zwar war sie nach wie vor eine mächtige Institution, und wenn jemand auf der Flucht war, konnte er noch immer bei der Kirche Schutz suchen und war dann sogar für den König unantastbar. Doch mit der Moral war es nicht weit her. Priester lebten in aller Öffentlichkeit mit Frauen zusammen, die nach dem Gewohnheitsrecht dieselben Rechte hatten wie in einer kirchlich geschlossenen Ehe, und hinterließen ihren Kindern Kirchenbesitz oder gaben ihnen diesen als Mitgift. Reiche Kaufleute empfingen die Priesterweihe, wie nun auch Silversleeves, und konnten sogar zu Stiftsherrn von St. Paul's aufsteigen, wenn sie diese Würde anstrebten. Wilhelm von der Normandie hatte in der frommen Hoffnung, diesen Sittenverfall aufzuhalten, den päpstlichen Segen zu der geplanten Invasion erhalten.
Nachdem die Priester und Kaufleute sich verabschiedet hatten, kam Silversleeves schließlich zu Leofric. »Ich hoffe, daß Ihr heute abend mit uns speist«, sagte er liebenswürdig.
Hinter einer Stellwand tauchten drei Dienerinnen auf und breiteten ein großes, weißes Tuch auf dem Tisch aus. Dann brachten sie zwei Tonkrüge, Messer und Löffel, Schüsseln und Trinkgefäße. Silversleeves bat seinen Gast, Platz zu nehmen.
Im Kirchenkalender war dieser Tag ein Fastentag; fromme Leute nahmen nur ein wenig Gemüse, Brot und Wasser zu sich. Leofric stellte sich schon auf ein karges Mahl ein – schließlich war Silversleeves nun Priester. Doch dieser wandte sich den drei Laienmönchen zu, die noch immer in der Ecke auf ihrer harten Bank saßen, und winkte sie zu sich. »Diese guten Männer fasten und tun Buße für uns«, erklärte er munter. Er gab jedem der drei Ehrenwerten einen Silberpenny, dann winkte er sie wieder weg und sprach das Tischgebet.
Damals saß man gewöhnlich nur an einer Längsseite des Tisches, und das Essen wurde wie über eine Theke hinweg von der anderen Seite serviert. Leofric saß rechts von Silversleeves, neben ihm saß Ralph. Henri saß zur Linken seines Vaters. Als erster Gang wurde Fasanenbrühe in Schüsseln mit zwei Henkeln serviert, die jeweils zwischen zwei Tischgäste gestellt wurden, da es die Höflichkeit erforderte, daß man mit seinem Nachbarn teilte. So fiel es Leofric zu, seinen Löffel in dieselbe Schüssel zu tauchen wie Ralph. Wenn der Kerl nur etwas gesitteter essen würde! Leofric war an alle möglichen Tischsitten gewöhnt, die unter den bärtigen
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