Long Reach
Frühstück.
»Dieser Dauerstress ist gefährlich«, erklärte Tony. »Deshalb hab ich mir auch Sorgen gemacht, als er diesmal verschwunden ist.«
»Und zum Verschwinden gehört dann gewöhnlich auch dazu, sich abzumurksen?«
Tony kratzte sich an der Nase. »Er stand ganz schön unter Druck«, sagte er schließlich. »Ihm saßen einige Leute im Nacken.«
»Und was passiert jetzt, wo er für immer ›verschwunden‹ ist?«
»Tja, da kommst du ins Spiel, Sohnemann. Wenn du dichdem gewachsen fühlst, könntest du uns vielleicht im Hintergrund ein bisschen zur Hand gehen.«
Ich spürte, wie tief in meinem Bauch die Furcht zu brodeln begann. Wo wollte er mich da hineinziehen? Die Übelkeit stand mir wohl ins Gesicht geschrieben, denn Tony erhob sich und legte mir seine schwere Hand auf die Schulter.
»Schau her, Kumpel. Wenn du irgendwelche Bedenken hast wegen dieser Sache, können wir vergessen, dass diese Unterhaltung jemals stattgefunden hat, und so weitermachen wie bisher. Kein Problem.«
»Ich will helfen.« Die Angst nagte immer noch an mir, aber die Schande, meines großen Bruders nicht würdig zu sein, wäre noch viel schlimmer, das wusste ich.
»Guter Junge.« Tony drückte meine Schulter. »Einer wie du kommt an Orten rein, wo Typen wie ich auffallen würden wie Scheiße im Schwimmbecken. Freut mich, dich an Bord zu haben. Und jetzt gibt’s da ein paar Leute, die ich dir gerne vorstellen möchte.«
Vier
Wir gingen die Charing Cross Road runter, über den Trafalgar Square. Auf tausend kleinen Umwegen. Tony wechselte von einer Straßenseite auf die andere, schaute kurz in Buchläden hinein und verließ sie durch eine andere Tür, folgte Nebenstraßen und Hintergassen und nahm die Abkürzung durch Soho über Chinatown, um dann hinter der National Gallery am Rand des Platzes aufzutauchen. Es war, als versuchte er mit jeder Bewegung, jemanden abzuschütteln. Ich konnte kaum mit ihm Schritt halten.
»Gewöhn dich dran, Kumpel«, sagte er augenzwinkernd. »Gute Übung. Damit du, wenn nötig, ›verschwinden‹ kannst.«
Wir betraten einen Pub südlich von Trafalgar Square. Tony schien den Mann hinter dem Tresen zu kennen, denn der servierte ihm unaufgefordert einen großen Scotch. Ich nahm eine Flasche kühles Bier. Tony sah sich prüfend in der halb leeren Bar um und stürzte seinen Whisky hinunter.
»Komm, los«, sagte er. Keine fünf Minuten waren wir hier drin gewesen. Ich ließ den Großteil meines Biers zurück und folgte Tony durch die Hinterräume des Pubs in einen Hof hinaus, der von hohen, grauen Gebäuden umgebenwar, alle voller Taubendreck. Aus einem der Häuser quoll Dampf und das halbe Dutzend Männer in Küchenuniform, das qualmend davor herumstand, würdigte uns kaum eines Blicks. Tony erklomm die metallene Feuerleiter, die die Rückseite des nächsten Gebäudes emporführte, und ich folgte ihm. Schließlich erreichten wir eine Stahltür und Tony zog eine Karte durchs Schloss.
Wir traten in einen weiß gestrichenen Korridor mit Neonbeleuchtung. Es roch nach Schulkantine. Uns gegenüber war eine schwere braune Holztür. Tony klopfte an.
»Herein …«
Der Raum war groß und spartanisch möbliert: ein abgewetzter Teppich, ein paar klobige Stühle und ein riesiger, ramponierter Schreibtisch. Nicht gerade zum Wohlfühlen. Das einsame, schmutzstarrende Fenster bot einen Blick auf den Triumphbogen Admiralty Arch, hinter dem es zum Buckingham Palace ging.
Der Mann hinter dem Schreibtisch las gerade irgendwas im Schein einer grünen Glaslampe. Ich folgte Tony und der Mann sah auf. Er musste um die fünfzig sein. Sein Gesicht war gebräunt und voller Falten, und sein kurzes Haar hatte die Farbe von Kupfer. Hart sah er aus.
»Hallo, Tony.« Er hatte einen vornehmen Tonfall.
»Sandy«, gab Tony zurück. Er bedeutete mir vorzutreten. »Das ist Sandy Napier.«
Sandy stand auf und reichte mir die Hand. Ich sah einen goldenen Siegelring und Manschettenknöpfe auf einem gestreiften Ärmel, der aus einem gut geschnittenen Anzug hervorschoss. An seinem linken Handgelenk eine Taucheruhr, die Rolex Submariner. Ich achte auf so was.
»Wie geht es dir?« Seine Stimme war militärisch, der Händedruck mörderisch. Seine Augen waren kalt und blau und auf mich gerichtet.
»Gut, danke. Erfreut, Sie kennenzulernen.«
Ich war mir sicher, dass er ein Lächeln unterdrückte, als er Tony einen Blick zuwarf. »Setzt euch«, sagte er und deutete in Richtung der Stühle vor seinem Schreibtisch. Tony und ich
Weitere Kostenlose Bücher