Long Reach
aber es kamen einfach keine Tränen. Mum und Tony klammerten sich im Flur aneinander und ich drängte mich an ihnen vorbei, durch die Haustür und raus auf die nasse Straße.
Ich rannte rüber auf die andere Seite, über die Eisenbahnbrücke und zum Park, vorbei an ein paar Hardcorejoggern und Pendlern auf dem Weg zum Bahnhof. Vom verwaisten Park aus blickte ich auf die nebligen Londoner Vororte, während sich mein Atem in ein Würgen verwandelte. Aus dem Würgen wurde rasch ein Schluchzen und ein tierischer Klagelaut zwängte sich aus meiner Kehle.
Jetzt erst traf mich die Erkenntnis wie ein Keulenschlag. Niemals würde ich ihn wiedersehen, nie wieder den Geruch seiner Lederjacke in der Nase haben, wenn er mich umarmte; nie mehr das Bier in seinem Atem riechen und seine Bartstoppeln an meiner Wange spüren.
Nie wieder.
Ich schaute rüber zur Canary Wharf, wo die ersten morgendlichen Lichter blinkten, und weiter zum Millennium Dome und zur trägen grauen Eintönigkeit des Flusses, der auf dem Weg runter nach Kent immer breiter wurde. Schaute auf die weiten Schlammflächen, wo sie meinen Helden gefunden hatten, meinen Bruder.
Steves Beerdigung fand einen Monat später statt. Kein großes Trara, nur eine schlichte Trauerfeier im Krematorium mit wenigen Worten von einem Pfarrer, der noch nie was von Steve gehört hatte.
Unser alter Herr schaute nicht mal vorbei. Obwohl, vielleicht wusste er noch nicht mal, dass Steve tot war. Mum hatte unseren Dad schon vor Jahren rausgeschmissen, als ich noch ein Kleinkind gewesen war. Anscheinend war er ständig besoffen gewesen, hatte sich von Job zu Job gehangelt, bis er eines Tages durchdrehte und gewalttätig wurde. Steve hatte einen Mordskampf mit ihm gehabt, praktisch Kleinholz aus ihm gemacht, und dann war er verschwunden. Seitdem hatte ich ihn nur ein paarmal zu Gesicht bekommen, verwahrlost und unrasiert. Einmal war er auf einer Verwandtenhochzeit aufgetaucht, ein andermal hatte ich ihn schlafend auf einer Parkbank in Lewisham gesehen. Ich kannte ihn kaum. Steve hatte sich um mich gekümmert, seit er weg war.
Den ganzen Monat hatten sie gebraucht, um die Obduktion und den Papierkram zu erledigen. Ein Albtraum war das, nicht nur wegen der Art, wie Steve umgekommen war, sondern weil die Behörden nur schwer davon zu überzeugen waren, dass er überhaupt existiert hatte. Denn Steve Palmers Arbeit war anscheinend so eine Art Top-Secret-Ding gewesen, mit zahlreichen falschen Identitäten, und so konnte man nur schwer nachweisen, dass er tatsächlich der echte Steve Palmer war. Das Ganze bereitete mir Kopfweh. Er war Steve. Ich wusste, dass er in allerhand Sachen verstrickt gewesen war, aber diese Decknamen waren mir neu. Ein Geheimnis, das er mit niemandem geteilt hatte.
Und dann gab es da noch das Urteil des Gerichtsmediziners zu schlucken.
Selbstmord.
Bei der Beerdigung fiel mir auf, dass ich nicht wesentlich mehr Ahnung von meinem Bruder hatte als der Pfarrer. Zunächst einmal war Steve zwölf Jahre älter als ich; ich hatte zwar meine ganze Kindheit mit ihm verbracht, aber war doch immer nur »der Kleine« geblieben. Man wurde nicht recht schlau aus ihm, aber ich wusste, dass er etwas auf dem Kasten hatte. Er war der Erste in unserer Familie, der studierte. Vor ungefähr zehn Jahren hatte er einen Abschluss in Technischer Chemie gemacht, in Essex oder sonst wo. Ich wusste auch, dass er um diese Zeit ein paar Probleme mit Drogen hatte, Raves und Housepartys organisierte und dabei erwischt worden war, wie er an andere Studenten Piece vertickte.
Nach Mums Version war Steve straffrei davongekommen, weil er sich auf eine Absprache mit der Polizei eingelassen und für sie als Informant gearbeitet hatte, ihnen hier und da Hinweise auf Drogengeschäfte, illegale Raves und so Zeug gesteckt hatte.
Tony Morris hatte das für ihn geregelt.
Soweit meine Erinnerungen reichten, war Tony immer für uns da gewesen, der treue Freund der Familie. Er war Zivilfahnder oder bei der Kripo – soviel ich wusste – und schaute immer mal vorbei, nur um sicherzugehen, dass mit mir und Mum alles in Ordnung war, so ohne den Alten. Er war auch immer da gewesen, um Mum zu beruhigen, wenn Steve wieder mal ein paar Wochen lang verschwunden war.
Ich wusste, dass Steve kein Unschuldslamm gewesen warund dass er schwierig sein konnte. Aber ich begriff nicht, wie er sich in eine Lage hatte manövrieren können, aus der Harakiri noch der beste Ausweg schien.
Ich begriff es nicht und
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