Long Tunnel
wahrnehmbare Bewegung, aber er bemerkte sie sofort.
»Das ist es nicht, nicht wahr? Nichts von dem, was ich gesagt habe, hat etwas damit zu tun, worüber wir gerade reden. Du bist gerade vor mir zurückgewichen, hast dich zurückgezogen.«
»Ich bin nur nervös, das ist alles. Nach den Tagen, die wir in totaler Finsternis verbracht haben, nach dem Kidnapping, nach der Flucht und den Schießereien ist das wohl kein Wunder. Beschossen zu werden, wird nicht von jedem so schnell verarbeitet wie anscheinend von dir.«
Er beugte sich vor, um ihr ins Gesicht zu blicken. Bernsteinfarbene Augen schienen geradezu durch sie hindurchzusehen. »Was ist wirklich los, Clarity?«
»Ich habe es dir gesagt.« Sie erhob sich. Es war ein Fehler gewesen, ihm in dieser Weise gegenüberzutreten. Sie hatte gedacht, sie würde die Angelegenheit ohne Schwierigkeiten regeln, und sie hatte sich schrecklich geirrt. »Ich muß wieder zurück. Ich muß die Aufzeichnungen …«
Als sie sich zum Gehen wandte, streckte er eine Hand aus und ergriff ihren Arm. Von sich aus einen Kontakt mit einem anderen menschlichen Wesen herzustellen, war ungewöhnlich für ihn. Er hörte ihr scharfes Einatmen und spürte, wie Angst sie durchströmte. Diesmal war es nicht die Angst vor der Schwärze. Es war die Angst vor einer anderen Art von Dunkelheit.
»Auf einmal hast du Angst vor mir. Die Gottheit weiß, daß ich versuchte, Abstand zu dir zu halten, damit es nicht zu eng würde mit uns, aber ich dachte, das hätte sich geändert. Trotz allem, was ich dir gesagt hatte. Nun ist wieder alles anders geworden. Was ist passiert? Jetzt sag nur nicht, daß ich mich irre.«
»Ich kann nicht.« Ihre Antwort war nur ein schwaches Flüstern. »Wie könnte ich? Könnte ich denn tatsächlich meine Gefühle vor dir verbergen, wenn ich es wollte?«
Er ließ ihren Arm los. »Nein. Ich kann deine Furcht spüren. Aber es ist keine geradlinige Furcht, sie ist nicht eindeutig. Du bist verwirrt; du weißt nicht, was du wirklich empfindest.«
»Bitte«, flehte sie ihn an, »nicht!« Völlig unerwartet fing sie an zu weinen. »Vielleicht ist das einfach alles. Vielleicht fühle ich mich ganz einfach in der Umgebung von jemandem nicht wohl, der die ganze Zeit weiß, was ich empfinde.«
»Aber das ist doch nicht die ganze Zeit über der Fall. Meine - Fähigkeit kommt und geht.«
»Wie kann ich das glauben?« Sie drehte sich ruckartig um und verließ eilig die Kantine.
Einige Gäste verfolgten ihren Abgang, dann sahen sie zu Flinx herüber, ehe sie sich wieder der eigenen Mahlzeit zuwandten. Sein Blick kehrte allmählich auf den eigenen Tisch zurück. Seine Mißstimmung deutlich spürend, sah Pip ihn erwartungsvoll an. Nach einer Weile aß sie weiter, achtete dabei aber aufmerksam auf ihren Herrn. Wenngleich leicht verwirrt, unterbrach Scrap seine Mahlzeit nicht. Flinx lenkte sich zum Teil damit ab, daß er den kleinen Minidrach aus der Hand fressen ließ.
Was war geschehen, daß Claritys Einstellung sich ihm gegenüber so radikal verändert hatte? Sicher, sie hatte sich entschieden, daß sie sich wieder in ihre Arbeit stürzen wollte, aber etwas ganz anderes war die Angst, die er in ihrem Geist gespürt hatte, als er nach ihr griff. Auf der Reise von Alaspin nach Long Tunnel war sie diejenige gewesen, die ständig geflirtet und mit ihm gescherzt hatte. Nun war jeglicher Frohsinn verflogen.
Die Ursache war auch nicht ihre blinde Wanderung durch das Höhlennetz von Long Tunnel. Die Abneigung, die sie ausstrahlte, war gegen ihn gerichtet und betraf nicht ihre gemeinsamen Erlebnisse. Zweifellos wären die Sumacrea in der Lage gewesen, diesen Stimmungsumschwung zu erklären, aber er war nicht so erfahren und sensibel. Er konnte nur das Vorhandensein ihrer Angst aufspüren, nicht jedoch die Ursache verstehen.
Das war auch der Augenblick, als er erkannte, daß er sie liebte. Da er sich bisher noch nie verliebt hatte, war ihm diese Entwicklung völlig fremd, und so hatte er diesen Zustand erst jetzt erkannt. Seine Liebe zu Mutter Mastiff war von ganz anderer Art gewesen, wie auch seine allgemeine eher gebremste Zuneigung zu Frauen wie Atha Moon. Dies jedoch war anders, völlig anders.
Sie war es gewesen, die eine engere Beziehung gesucht hatte. Sie war es, die den Finger auf seinen emotionalen Auslöser gelegt hatte, und nun zog sie sich einfach zurück. Das war nicht fair. Er mußte zu seiner Verwirrung erkennen, daß die Jahre seines Studiums der Gefühle anderer es nicht
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