Lord Camerons Versuchung
unglaublichem Laufvermögen, war fast zuschanden geritten worden, weil man sie die großen Rennen hatte laufen lassen, ehe sie genügend darauf vorbereitet gewesen war. Ihr Besitzer, ein Narr von einem englischen Viscount namens Lord Pierson, hatte bereits eine ganze Reihe von Trainern verschlissen. An jedem hatte er etwas auszusetzen gefunden und Jasmine in rascher Folge von einem zum nächsten wechseln lassen. Pierson verachtete Cameron ganz offen, weil dieser seine Pferde selbst trainierte und manches Mal auch Pferde anderer Besitzer in seinen Stall aufnahm und ausbildete. Ein Gentleman beschäftigte andere, um untergeordnete Aufgaben zu erledigen, hatte Pierson zu ihm gesagt.
Cameron sah keinen Grund, Pferde zu besitzen, wenn er nicht mit ihnen zusammen sein und arbeiten konnte. Er hatte in jungen Jahren entdeckt, dass er ein Talent für den Umgang mit diesen Tieren hatte. Er konnte nicht nur das Beste aus jedem Pferd herausholen, sondern sie folgten ihm durch den Paddock anhänglich wie Hunde und sahen ihm erwartungsvoll entgegen, wenn er den Hof mit den Ställen betrat.
Jasmine war eine dunkelbraune junge Stute mit hohen Beinen und einem starken Herzen. Sie hatte den Charakter und das Potenzial, ein fantastisches Rennpferd zu werden, aber Pierson hatte sie fast zerstört. Er hatte gewollt, dass sie als Dreijährige an den bedeutendsten Galopprennen des Jahres teilnahm: Epsom, Newmarket, Doncaster. In Newmarket war Jasmine gestürzt, glücklicherweise aber unverletzt geblieben. Sie hatte recht gut abgeschnitten, was aber mehr an ihren Fähigkeiten als an denen des Jockeys oder der Fürsorge ihres Trainers gelegen hatte.
In Epsom, unter einem neuen Trainer und einem neuen Jockey, hatte sie im Mittelfeld nachgelassen. Pierson war ärgerlich gewesen, hatte Trainer und Jockey gefeuert und Jasmine zu Cameron gebracht und gesagt, dass er seine letzte Hoffnung sei. Pierson ärgerte sich sehr, dass es sich bei Cameron ausgerechnet um einen der verfluchten schottischen MacKenzies handelte, aber er hatte keine andere Wahl. Jasmine sollte das St.-Leger-Rennen in Doncaster gewinnen – mehr war dazu nicht zu sagen.
Cameron hätte Piersons Bitte am liebsten abgelehnt, aber nach einem Blick auf Jasmines schlanke Statur und ihre mutwilligen Augen hatte Cameron sie nicht mehr wegschicken können. Er wusste, das Pferd hatte etwas in sich, das er vielleicht fördern konnte. Vor allem aber musste er sie vor Pierson retten. Also hatte er zugestimmt.
Doch Cameron bezweifelte, dass Jasmine das Rennen von Doncaster gewinnen würde, und er sagte Pierson das auch ganz offen. Sie war ausgelaugt, müde und gereizt und brauchte viel Fürsorge, wenn sie überhaupt noch eine Entwicklungschance hatte. Pierson schien das gar nicht zu gefallen, aber das war Cameron völlig egal gewesen.
Jasmine war heute gut gelaufen. Sie hatte ihre Leistungsfähigkeit gezeigt und hielt stolz den Kopf hoch, als Angelo sich hinunterbeugte, um ihr den Hals zu tätscheln. Einige von Harts Gästen hatten sich als Zuschauer jenseits des Geläufs eingefunden – und hielten einen Sicherheitsabstand zwischen sich und den Pferden ein, um den sie Cameron im Laufe der Woche immer wieder gebeten hatte.
Nirgendwo entdeckte Cameron jedoch die schöne Lady mit dem goldenen Haar, so sehr er auch nach ihr Ausschau hielt – wobei er sich einredete, es nicht zu tun. Ainsley Douglas half vermutlich Isabella und Beth dabei, irgendetwas zu organisieren. Isabella hatte in dieser Woche mehr als einmal ein Loblied auf Mrs Douglas’ Organisationstalent gesungen.
Natürlich besaß sie dieses Talent. Kriminelle mussten gut organisiert sein, sonst wurden sie geschnappt. Das knisternde Blatt Papier in Camerons Tasche war eine Erinnerung daran.
Camerons Sohn Daniel ritt ein weiteres Rennpferd, ein erfahrenes, das als Schrittmacher für Jasmine diente. Cameron hielt sein Pferd zurück und beobachtete seinen Sohn mit einem Anflug von Stolz. Danny hatte ein Händchen für Pferde und würde einmal einen guten Trainer abgeben, wenn er sich für diesen Sport entscheiden sollte.
Daniels schlaksige Gestalt war während des Sommers nicht nur in die Höhe geschossen und hatte Cameron in der Größe eingeholt, sondern auch seine Schultern waren breiter und seine Stimme tiefer geworden. Er war zu Camerons Überraschung plötzlich ein Mann geworden, und Cameron war sich nicht sicher, wie er damit umgehen sollte. Daniel hatte sich trotz allem bemerkenswert gut herausgemacht, was Cameron auf
Weitere Kostenlose Bücher