Lord Gamma

Angst hatte, er würde vor Schwindel den Halt verlieren. Auch bei der Handhabung der Steigklemmen stellte er sich nicht sonderlich geschickt an, was mich vermuten ließ, daß er Zeit seines Lebens noch nie ein Seil emporgestiegen war. Von Schwäche allerdings keine Spur. Als Gamma den Auslauf des Entlüftungskamins erreichte, verstummte er, spähte über den Rand und kletterte hinaus. Wie es aussah, war die Luft an der Oberfläche rein. Ich schulterte den Rucksack und stieg ihm hinterher. Auf dem Dach angekommen, fand ich ihn am Rand der Plattform stehend. Der Schlüssel an Prills Hinterkopf wirkte, als hätte sich ein fetter, glänzender Parasit daran festgesaugt. Erst glaubte ich, Gamma halte nach Läufern Ausschau oder betrachte den Pontiac. Ich zog das Seil herauf und verstaute es im Rucksack. Als ich neben Gamma trat, bemerkte ich, daß er zur Hügelkette jenseits der Straße blickte. Die Umgebung war leer, nirgendwo ein Läufer oder ein verräterischer Schatten neben einem Entlüftungskamin. Gleichwohl konnte die Gefahr hinter der bergab gelegenen Stufe der Plattform lauern.
    Gamma kletterte vorsichtig die eineinhalb Meter vom Bunkerdach zum Wüstenboden hinab und bedeutete mir, so wenig Erschütterungen wie möglich zu verursachen. Der Sand schluckte die Geräusche unserer Schritte, während wir uns dem Wagen näherten. Die Stille schien trügerisch. Ich sah mich um, suchte die schwarzen Kugeln der Läufer. Selbst wenn sie sich eingruben, waren sie nicht völlig unter der Oberfläche verborgen. Ihre Hinterleiber ragten aus dem Boden, um Signale zu empfangen, was sie in der braun-beigen Landschaft wie riesige Pestbeulen wirken ließ. Ihre Passivität konnte nur bedeuten, daß Nikobal weiterhin in der Babalon-Ebene festsaß. Dieser Gedanke verleitete mich zu einem selbstgefälligen Grinsen.
    Nachdem Gamma es sich auf dem Beifahrersitz bequem gemacht und es mir überlassen hatte, den Pontiac anzuschieben, schien er die Sprache verloren zu haben. Vielleicht langweilte ich ihn, oder es war die Fahrt, oder diese ganze Welt.
    »Wohin fahren wir?« erkundigte ich mich, wohl wissend, daß unser Ziel kaum entlang der Straße und schon gar nicht jenseits der Berge liegen konnte. Allerdings versprach auch die Wüste wenig Verheißungsvolles, es sei denn, Gammas Bestimmungsort lag unter der Erde.
    Mein Mentor hatte die Lehne zurückgedreht und lümmelte entspannt auf dem Beifahrersitz. Das Haar des Prill-Klons wehte im Fahrtwind, seine Augen waren geschlossen. »Zur nächstgelegenen Brücke«, antwortete er.
    Hatte ich das nicht vor kurzem schon einmal gehört? Brücken schienen begehrte Ziele in dieser Welt zu sein. Ich sah über die Wüste, dann hinauf zu den Bergkuppen. »Eine Brücke? Worüber?«
    »Du denkst zu dreidimensional, Stan«, tadelte mich Gamma.
    Ich zerbrach mir den Kopf, stellte mir Drehbrücken, Klappbrücken, Hängebrücken und Zugbrücken vor. Keine von ihnen wollte so recht in diese Welt passen. Es gab hier keine Schluchten, keine Flüsse, nicht einmal ein gottverdammtes Rinnsal, über das sich eine Hängematte spannen ließ. Hatten die Lords ein paar hundert Kilometer voraus vielleicht die beiden Bergrücken miteinander verbunden? Oder meinte Gamma seine Kommandobrücke? Als ich zu keinem Ergebnis kam, schaltete ich das Radio ein. Es spielte Dudeldudel von irgendeiner jammernden Soul-Schwuchtel, dann ertönte das Radio-Gamma-Bäng-Bumm-Patsch-Jingle, und eine wohlbekannte Stimme rief: »Bunny ho, Kinder der Cobalt-Sonne! Heute ist Samstag, der 11. Dezember ’21 …«
    Ich trat auf das Bremspedal, brachte den Pontiac mit quietschenden Reifen zum Stehen. Gamma rutschte fast in den Fußraum, mußte sich mit beiden Armen am Armaturenbrett abstützen. Mit der Rechten langte ich blitzschnell hinter den Fahrersitz, riß die Ruger aus dem Holster und richtete sie auf die Frau …
    Bevor ich die Bewegung vollendet hatte, ergriff Gamma – seine rechte Hand noch immer auf das Armaturenbrett gestützt – mit einem unglaublichen Reflex mein Handgelenk und drehte mir den Arm um. Dabei sah er nicht einmal hin. Der Schuß löste sich, das Projektil jagte in den Abendhimmel. Zu einem zweiten Versuch kam ich nicht, denn Gamma drückte zu. Ich schrie auf, der Schmerz und der verdrehte Arm zwangen meinen Körper nach vorne. Das Gesicht gegen das Lenkrad gedrückt und den Arm vor Schmerz wie gelähmt, lösten sich meine Finger vom Griff der Browning. Die Waffe rutschte mir aus der Hand und polterte gegen die