Lord Gamma
stabilen, künstlichen Satelliten dieser Größe zu konstruieren. Das Risiko war allen, ob Regierungen, Ingenieuren oder Investoren, zu groß. Man zog die vielversprechenden Centauri-Missionen vor. Exitus des BRAS-Raumes im Jahr 2181.« Der Lord hob den Kopf, schien nach etwas zu lauschen.
»Darf ich raten?« fragte ich. »Sie haben ihn trotzdem gebaut.«
Gamma nickte. »Ja, das haben sie. Die Verlockung war wohl zu groß. Nach mehr als einem halben Jahrhundert erlebte das BRAS-Projekt im Jahr 2232 eine Renaissance. Die Möglichkeiten für eine Verwirklichung hatten sich weiterentwickelt, und nach einer nochmaligen Testphase mit dem BRAS-II-Raum begann man im Mondkrater Archimedes mit dem Bau einer sublunaren Anlage. Ein Sechzehntel der Erdschwerkraft, eine starre Kruste, eine Bodentemperatur von minus 140 Grad Celsius und Nullatmosphäre prädestinierten den Erdtrabanten für das Projekt. Die einzige Sorge der Ingenieure und Wissenschaftler bestand darin, daß sich die Mondoberfläche tagsüber auf über 110 Grad Celsius aufheizt.
Der Bau der Anlage dauerte achtzehn Jahre. Der vollendete und in Betrieb genommene BRAS-III-Raum sprengte im wahrsten Sinne des Wortes alle Dimensionen. Den Berechnungen zufolge besaß er ein maximales Bewußtseinsmuster-Volumen von 10 22 . Das Kraftfeld erzeugte eine stabile Altosphäre von gigantischen Ausmaßen, und die ersten eingespeisten Bewußtseinsmuster fühlten sich sprichwörtlich wie die Maden im Speck.
Die Menschen hegten das BRAS fortan als spirituelles Archiv, wie einen Computer, dessen Speicherplatz mit künstlichen menschlichen Seelen belegt war, ohne gänzlich zu begreifen, was sie wirklich erschaffen hatten. Das BRAS erlaubte ihnen, bei Fragen und Problemen simplen bis kosmischen Ausmaßes lebendiges Denken zu Rate zu ziehen, eine Sphäre voll schöpferischer Persönlichkeiten und Koryphäen, allesamt erfüllt von Hochgedanken und Genialität und Wissen. Diese stellten eine Unzahl der Theorien Einsteins, Hawkings und Saltallos auf den Kopf, denn aus dem scheinbaren Nichts erschaffen, war dort, wo die Sphäre sich ausdehnte, faktisch Nichts. Sie war weder Energie, noch Gas oder eine Ansammlung dunkler Materie. Es war überhaupt keine Materie. Die Sphäre glich einer Manifestation puren Geistes. Man schickte Sonden hindurch, aber sie waren nicht in der Lage, Daten zu übermitteln. Trotzdem konnte man das BRAS im lichtlosen Raum sehen, als ultraviolett glosende Sphäre ohne scharfe Konturen. Man bestimmte ihren sichtbaren Durchmesser auf zwölf Kilometer, plus minus eintausend Meter. Sie besaß keine Masse, keine Dichte, keinen Kern. Nicht einmal Mikropartikel erfüllten sie. Alles, was man zu bestimmen vermochte, war der Grad ihrer Helligkeit.
Zwei Jahrzehnte lang reicherte man die Altosphäre mit Bewußtseinsmustern an, rekonstruierte verstorbene Persönlichkeiten anhand ihrer Biografien, Memoiren, Fachbücher und zur Verfügung stehenden Bild- und Tonaufnahmen. Der gigantische BRAS-Raum bildete ein hermetisches System, dazu geschaffen, körperloses Wissen zu konzentrieren; eine Seelenkompressionskammer, wenn man es so nennen will. Ohne das Kraftfeld, das die Sphäre umgab, wären die Informationsmuster im Raum zerflossen, hätten sich aufgelöst, bis zum absoluten Unbewußtsein verdünnt wie ein Becher mit Farbe, der in einen Ozean gekippt wird. Bei antiken Bewußtseinsmustern nahm man aus Mangel an Quellenmaterial natürlich eine ›bescheidene Persönlichkeitsverzerrung‹ in Kauf, ebenso war man trotz des großen Anreizes bemüht, bestimmte Persönlichkeiten aus ethischen Gründen nicht in die Sphäre zu integrieren. Was in der Altosphäre selbst vor sich ging, wie sich die Muster zu- und untereinander verhielten, ob jedes für sich allein oder alle vielleicht ein Ganzes waren, konnte niemand mit Bestimmtheit sagen. Das BRAS war kein Computer, den man einem Systemcheck unterziehen konnte.
Nach zwei Jahrzehnten enthielt es mehr als neunzehntausend Bewußtseinsmuster, von Thales, Sokrates und Demokrit über Kopernikus, Kepler, Einstein, Haydn, Mozart, da Vinci und so weiter bis hin zu den Koryphäen der damaligen Neuzeit, ein who is who der Weltgeschichte. Die Muster gaben sich aufgrund ihrer eigenständigen Weiterentwicklung äußerst mitteilungsbedürftig, der Wissensdurst ihrer Schöpfer war in gleichem Maße unersättlich. Es war beinahe so, als habe man die Tür zu Gott einen Spalt breit geöffnet und sei nun in der Lage, mit ihm zu plaudern.
Bis ins Jahr
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