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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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von meinen Zigaretten angezündet – die letzte, die übrig war. »Um diesen Ort und die Wahrheit zu verstehen, mußt du erst versuchen, sie zu verstehen. Du nimmst Zeit als Punkterlebnis wahr. Die Fähigkeit, sie wie eine Ebene ohne Horizont zu überschauen, so, wie du die Weite einer Landschaft vor dir erkennen kannst, indem du einfach deinen Blick hebst oder senkst, besitzt du nicht. Dein Erfahrungsrahmen erstreckt sich über dein kurzes Leben. Alles, was davor geschah und danach geschehen wird, beläuft sich auf Rekonstruktion, Spekulation, Vermutung, wie verheißungsvoll es auch sein mag.
    Es soll Menschen gegeben haben, die fähig waren, über den Augenblick hinaus einen unverhofften Blick in diese Dimension zu werfen. Sie erfuhren Erlebnisse aus der nahen Zukunft, die sie irgendwann als Déjà vus wiedererlebten. Oder sie sahen etwas, das sich in der Zukunft ereignete, und glaubten fortan, sie könnten weissagen. Es waren allesamt unbedeutende Ausnahmen, Irregularitäten, nichts, aus dem sich ein evolutionärer Prozeß hätte entwickeln können.
    Um deinen Erfahrungsrahmen zu erweitern, kannst du dich des Wissens und der Visionen anderer bedienen, aber wieviel ist dieses Wissen wirklich wert? Worte, Bilder, Gesten? Schriftzeichen sind eine Matrix der Phantasie, vermögen aber niemals ein tatsächliches, untrügliches Bild dessen zu vermitteln, was du mit eigenen Augen siehst, deine Hände einst spürten oder irgendwann spüren werden. Fotografien sind zweidimensionale Angelegenheiten, die durch ein paar Tricks Dreidimensionalität vorgaukeln können. Sie verströmen keinerlei Gerüche, besitzen keine Persönlichkeit, sind auf wenige Sinne beschränkt. Aber würde es dich nicht interessieren, wie vor Jahrzehntausenden das Fleisch eines Mammuts geschmeckt hat, wer Jesus wirklich war oder wie in ein- oder zweihundert Jahren das Parfüm einer Frau riechen wird?«
    Ich versenkte die niedergerauchte Zigarette in der Suppenpfütze auf dem Tisch. »Hältst du diesen Vortrag, um mir weiszumachen, ihr hättet die Zeitmaschine erfunden?«
    »Nein«, entgegnete Gamma. »Wir nicht. Wir haben nur gefunden, was ihr zurückgelassen habt!«
    Als ich vor Verblüffung nichts zu erwidern wußte, sagte Gamma: »Die Wahrheit ist, daß du dich weit in der Zukunft befindest. Das gilt für deinen Aufenthalt im Sublime wie auch in den Projektebenen. Die Wahrheit ist, daß es in dieser Zukunft keine Menschen mehr gibt. Oder sagen wir: gab. Zuerst glaubten wir, die Menschen wären ausgestorben oder hätten sich einfach nur aus dem Staub gemacht, weil die Erde unbewohnbar geworden war, aber das war nicht der Fall. Vieles spricht dafür, daß euer Verschwinden einen ganz anderen Grund hat. Die Wahrheit ist, daß das Sublime Menschenwerk ist. Wir haben es lediglich wieder in Betrieb genommen – wobei diese Formulierung etwas hinkt. Die Anlage war noch in Betrieb, jedoch seit langer Zeit verwaist. Sie hatte sich sozusagen selbst betrieben.«
    »Selbst betrieben?« echote ich.
    »Und das über Jahrtausende.«
    Mein Lachen klang leicht hysterisch. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Fehlte noch, daß Gamma eine Leinwand aufrollte und einen Diavortrag hielt. Seine Worte machten mich wütend und bestürzt zugleich; wütend, weil er sich tatsächlich erdreistete, mir solch einen Humbug zu erzählen, und bestürzt, weil mir eine innere Stimme sagte, daß es tatsächlich die Wahrheit war. »Nichts von Menschenhand Geschaffenes kann so lange funktionieren«, urteilte ich. »Schon gar nicht eigenständig. Niemals!«
    »Das ist wahr«, stimmte Gamma zu. »Zumindest, was den BRAS-Komplex betrifft. Die Geschichte des Sublime beginnt Mitte des 22. Jahrhunderts eurer Zeitrechnung. Zu dieser Zeit gab es bereits einen bescheidenen interplanetaren Verkehr. Es existierten drei Kolonien auf dem Mond, zwei industrielle und eine wissenschaftliche, ferner eine Station auf dem Mars und eine Erzförderanlage auf Ceres, dem größten Planetoiden. Unbemannte Orbitalstationen umkreisten Venus, Jupiter, Saturn und Uranus. Man expandierte in kleinen Schritten, hatte große Teile des Sonnensystems wirtschaftlich erschlossen und stand kurz davor, einen ersten Sprung ins benachbarte Centauri-System zu wagen. Das Sonnensystem galt weitgehend als erforscht, man rechnete kaum noch mit größeren Überraschungen.
    Auf der Erde beschäftigte sich eine Gruppe von Physikern und Historikern mit der Konstruktion eines metaphysischen Datenspeichers und der Erschaffung

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