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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Stunde erzählt hatte. Ihre rechte Hand strich geistesabwesend über den Spalt in ihrem Nacken. Ich hatte mein T-Shirt hochgezogen, um sie einen Blick auf meinen Nabel werfen zu lassen. Er befand sich dort, wo er bei einem Menschen hingehörte, der auf der Erde geboren und nicht in einem Nährstofftank gezüchtet worden war. Es war derselbe Augenblick gewesen, in dem sie begriffen hatte, daß ich nicht der Stan war, den sie kannte (und der wohl immer noch in der Dekontaminationskammer saß). Ich hatte ihr beschrieben, wie es in den anderen Stationen aussah und was ihre Klone dort getrieben hatten. Am schockierendsten war für sie die Tatsache, daß sie nur eine Kopie war – eine von zahllosen Kopien, die sich in zahllosen ähnlichen Stationen aufhielten und nichts voneinander wußten.
    »Hast du dich denn nie gefragt, wie du hierher gekommen bist?« fragte ich Prill.
    Sie schüttelte den Kopf. »Man hat uns hierher gebracht«, antwortete sie leise.
    »Woher?«
    »Aus – aus der Stadt …«
    »Aus welcher?« bohrte ich.
    »Verdammt, ich weiß es nicht mehr!« fauchte sie. »Ist das ein Verhör?« So schnell, wie sie sich erregt hatte, beruhigte sie sich wieder, murmelte: »Ich glaube, aus … Bloomingdale.« Sie sah mich an. »Oder nicht?«
    Ich nickte, ohne es ernst zu meinen. Unser Haus steht in Bloomingdale. Es ist ein relativ ruhiger, nordwestlich gelegener Vorort von New York. »Und den Krieg, hast du ihn erlebt?«
    »Nein, es … ging alles so schnell«, sagte Prill stockend. »Niemand hatte uns gewarnt. Da war plötzlich dieses Licht, hell wie die Sonne, aber so unendlich kalt. Es überstrahlte alles, und als es explodierte, war es, als ob die Zeit stehenblieb und alle Töne der Welt verstummten. Überall war nur noch Licht. Ich rief etwas, aber ich konnte meine Stimme nicht mehr hören. Neben mir saß eine junge Asiatin. Als das Licht kam, schrie sie: ›Shu Jesusu, awaremi tamai! Shu Jesusu, awaremi tamai! …‹«
    »Herr Jesus, erbarme dich unser!« übersetzte ich. »Das ist japanisch. Diese junge Frau heißt Asako. Sie lebt ebenfalls in dieser Station.«
    »Ja.« Prill zupfte nervös an ihren Haaren. »Du hast recht. Ich werde ihre Stimme nie vergessen. Sie war das letzte, an das ich mich erinnere, ehe ich das Bewußtsein verlor. Als ich Tage später wieder aufwachte, war ich hier und der Krieg vorbei.«
    »Ich habe diese Geschichte schon so oft und von so vielen Leuten erzählt bekommen«, sagte ich und schenkte Prill und mir aus Ritas Bar zwei Drinks ein.
    »Dann ist sie wahr«, urteilte Prill kurzerhand.
    »Allerdings nannte jeder Bewohner seinen eigenen Wohnort, wenn ich ihn fragte, wo er denn von den Raketeneinschlägen überrascht worden sei; Cleveland, Green Bay, Atlanta, Flagstaff, Pocatello, manche sogar Kyoto, München, Toulouse oder Smolensk. Und trotzdem finden sich alle hier in diesem Bunker wieder, von barmherzigen Samaritern aus Städten angekarrt, die quer über die Vereinigten Staaten und die restliche Welt verstreut liegen. Das ist doch seltsam, findest du nicht? Glaubst du, daß Japaner, Deutsche, Franzosen oder Russen keine eigenen Bunker besitzen?«
    Prill nippte an ihrem Drink und starrte ins Leere.
    »Alle, die hier leben, glauben wie du, daß ein nuklearer Krieg die Welt verwüstet und die Oberfläche verseucht und für lange Zeit unbewohnbar gemacht hat«, fuhr ich fort. Dabei ging ich im Zimmer auf und ab, lauschte hin und wieder an der Tür und machte Pausen, damit Prill etwas Zeit fand, das Gehörte zu verarbeiten, wenngleich ich wußte, daß sie kaum in der Lage war, auch nur die Hälfte davon zu begreifen. »Sie denken, draußen fällt seit Jahren säurehaltiger Regen. Sie glauben, er fällt auf radioaktiven Staub, sickert durch verstrahlten Boden. Aber warum hat das Grundwasser bis heute keinen von euch krank gemacht? Glaubst du, es fließt durch ein paar Erdschichten, die die Strahlung aus ihm herausfiltern und es in frisches, gesundes Quellwasser verwandeln? Glaubst du das? Oder …« Ich lief in die Küche, griff aus dem Kühlschrank, was mir gerade in die Finger kam, und schmiß es neben Prill aufs Bett; Wurst, verpackten Käse, einen Beutel Frischmilch. »… Oder das?« Ich hielt ihr einen Joghurtbecher hin. »Wie erklärst du das hier? Wo soll das produziert worden sein, wenn die Welt vor über vier Jahren untergegangen ist und alle Städte zerbombt wurden? Gehst du hier irgendwo in einen Supermarkt und kaufst ein? Dann zeig mir, wo! Zeig mir die Bäcker und

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