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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Metzger, die Getränkehändler und Kleider-Boutiquen!« Ich kniete mich vor Prill nieder und hob ihr Kinn an, damit sie mir in die Augen sah. »Überleg’ mal: Textilindustrie, Lebensmittelindustrie« – ich hielt den Milchbeutel hoch – »Landwirtschaft mit Atomkühen? Wenn es einen Krieg gegeben hätte, müßte euch das Gift, das ihr jahrelang geschluckt habt, längst in lebende Geschwüre verwandelt haben. Wo soll das hier alles herkommen, wenn dort draußen kein Leben mehr möglich ist? Aus Grönland oder Afrika oder von den Osterinseln, wo keine Raketen einschlugen? Nein, Prill, es ist einfach da, Tag für Tag neu, in euren Kühlschränken, in euren Kleiderschränken, in den Badezimmerschränken – wie aus dem Nichts und ohne daß ihr einen Finger zu krümmen braucht. Die Lords lassen euch nie Mangel leiden, geben euch alles, was ihr zum Leben benötigt. Ihr seid es gewohnt, von ihnen gefüttert zu werden, wie Vieh. Etwas anderes kennt ihr nicht. Und warum nicht? Weil ihr niemals etwas anderes erfahren habt! Weil es euch alle erst seit vier Jahren gibt. Und weil euer Persönlichkeitsmuster es nicht zuläßt, daß ihr euch darüber Gedanken macht und gewisse Dinge hinterfragt. Ihr akzeptiert. Ihr seid Kinder, Prill; ausgewachsene, vierjährige Kinder! Viele von euch denken inzwischen gar nicht mehr an das Draußen, und irgendwann wird es für euch überhaupt nicht mehr existieren. Im Grunde eine fast logische Entwicklung, denn ihr habt niemals wirklich gelebt; oder sagen wir: existiert. Es widersetzt sich meinem Empfinden, euer Treiben als Leben zu bezeichnen.«
    Prill begann zu schluchzen, und ich merkte, daß ich in meiner Wut auf die Lords mal wieder zu weit gegangen war. Ich setzte mich neben sie und nahm sie in den Arm. Sie behielt die Hände im Schoß und wandte sich von mir ab. »Tut mir leid«, versuchte ich sie zu trösten. »Ich hab’s nicht so gemeint.«
    »Du hast es aber gesagt«, sprach sie leise. »Glaubst du denn, du hältst ein Tier im Arm?«
    »Nein, Prill, ich …«
    »Irgendso ein Gen-Ding von der Stange?« Sie zitterte. »Ich bin kein Monster, Stan!«
    »Auch das habe ich nicht behauptet.«
    Minutenlang schwiegen wir beide, bis Prill sich wieder gefaßt hatte. Dann fragte sie tonlos: »Aber wenn alles gelogen ist, was geschah dann mit uns?«
    Ich ließ mich zurück aufs Bett sinken, rieb mir die brennenden Augen und starrte hinauf zur Zimmerdecke. »Erinnerst du dich an Flug 929?«
    Prill schüttelte den Kopf.
    Ich schnaufte ergeben. Mittlerweile mußte ich auf sie wirken wie ein sprechender Osterhase, der ihr weiszumachen versuchte, den Weihnachtsmann gebe es wirklich.
    »Flug 929 startete am 16. Juli 2017 mit 628 Menschen an Bord von New York nach Los Angeles. Es – sollte unsere Hochzeitsreise werden …«
    Prill sah auf. »Wir sind verheiratet?«
    »Noch nicht«, schwächte ich ab. »Erst recht nicht wir beide. Dein Original und ich hatten vor, in Las Vegas zu heiraten und dann ein paar Wochen durch den Westen zu fahren. Du trugst für den Flug ein khakifarbenes Kleid und warst so aufgeregt, daß du vor dem Einchecken auf der Flughafentoilette vier Beruhigungstabletten schlucken mußtest. Seit ich dich kannte, beteuertest du, daß man dich für kein Geld der Welt in eine Maschine setzen könnte, die rein technisch in der Lage sei, sich auf irgendeine Weise in die Luft zu erheben. Kurz gesagt: du hattest eine Heidenangst vor dem Fliegen. Tags zuvor warst du sogar bei deiner Schwester, die Schwangerschaftsgymnastik unterrichtet, und hattest dir Tips für entspannendes Atmen in Streßsituationen geben lassen …«
    Prill lachte auf, wurde jedoch sofort wieder ernst. »Keine von uns kann Kinder kriegen«, sprach sie wie zu sich selbst. »Es heißt, das liegt an der Strahlung.«
    Ich setzte mich auf. »Ihr seid nicht unfruchtbar aufgrund irgendwelcher Strahlung, wie euch die Lords weismachen wollen. Es gibt keine Strahlung, es gab keinen Krieg. Man hat die Frauen lediglich steril erschaffen. Alle weiblichen Klone sind unfruchtbar gezüchtet worden.«
    »Aber warum?« In Prills Blick lag Verständnislosigkeit. »Es ist genügend Platz für Kinder in der Station.«
    »Aber scheinbar nicht im Konzept der Lords«, entgegnete ich. »Im Flugzeug befanden sich exakt 314 Männer und 314 Frauen, die Besatzung mit eingeschlossen. Kein einziger Passagier schien irgendwelche Handicaps wie Herzschrittmacher, Parkinson-Hirnsonden oder Glasaugen besessen zu haben, nicht einmal Brillen oder

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