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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Ledermaske vom Kopf und strich mir durchs schweißnasse Haar. »Morgen«, sagte ich und sah ihr in die Augen, »sind wir beide längst nicht mehr hier.«

 
Naos 3
     
     
    DER TUNNEL VERÄNDERT SICH. Er tut es heimlich, immer hinter meinem Rücken, jenseits meiner Blicke. Eine geheimnisvolle Kraft formt ihn um. Eben noch blankes Metall unter den Füßen, laufe ich nun über blauviolett gemusterten Teppichboden. Die Metamorphose gestaltet die Metallröhre zu einem Korridor. Bald sind auch Wände und Decke unter dicker, alabasterfarbener Kunststoffverkleidung verschwunden. Fenster entstehen in futuristisch geformten Vertiefungen der Seitenwände, kleine rechteckige Luken mit dicken Scheiben und abgerundeten Ecken, weit über fünfzig in jeder Tunnelwand. Aber warum befinden sie sich so weit unten? Die Fenster sind kaum größer als zwanzig Zoll und reichen mir gerade mal bis zum Bauchnabel. Ein Mensch, der aufrecht stehend hindurchblicken will, dürfte kaum größer sein als ein Zehnjähriger. Läßt sich der Boden absenken? Sind jene, die mich hier festhalten, zwergenwüchsig? [Nanu, wer hat denn aus meinem Fensterchen gesehen?] Die tiefliegenden Luken zwingen mich, in die Knie zu gehen, um einen Blick hinauszuwerfen. Jenseits der Fenster: Schwärze. Ich krieche an ihnen entlang, sehe hindurch, finde nur Dunkelheit. Keine Landschaft, keine Wände, keine Sterne; einfach nichts, nur konturlose Finsternis.
    Gehört dieser Tunnel zu einem Schiff? Einer Raumstation? Vielleicht bin ich tatsächlich Astronaut. Wo ist die Erde? Ich sehe sie nicht. Könnte auch das Habitat einer submarinen Station sein, die auf dem Meeresgrund steht. Oder ein Eisenbahnwaggon … Verdammt, ich kann mich an nichts erinnern. Heute ist heute, aber was ist mit dem Gestern? Dieser Ort kommt mir vertraut vor, aber ich bin nicht fähig, ihn in eine Vergangenheit einzuordnen. Hatte ich einen Unfall? Wurde mein Gehirn dabei verletzt? Muß ich erst wieder lernen, das Selbstverständliche zu begreifen?
    Moment …
    Mein Blick ist nach links gewandert, hat außerhalb des Tunnels eine neue Form erspäht. Aber sie ist zu weit entfernt, um sich bestimmen zu lassen. Ich eile zurück in die Mitte des Korridors, sehe hinab.
    Etwa fünf Meter unterhalb des Fensters befindet sich eine breite Metallbrücke. Sie ist von grauschwarzer Farbe, mit weißen Streifen an ihren Rändern, gleicht einer Straße, die man von oben betrachtet. In einem Winkel von vierzig Grad zweigt sie vom Tunnel ab, verliert sich nach vielleicht zwanzig Metern in der Dunkelheit. Ich blicke aus dem gegenüberliegenden Fenster, erkenne eine zweite Brücke, identisch mit der auf der anderen Seite. Beide Brücken scheinen zusammenzugehören und einige Meter unter dem Korridor hindurchzuführen. Vielleicht sind sie aber auch mit ihm verbunden, sorgen für seine Stabilität. Es sieht so aus, als halten sie ihn über einem unermeßlichen Abgrund fest. Ich weiß nicht, wohin sie führen, kann ihr Ende nicht erkennen. Gibt es unter mir möglicherweise noch eine zweite Ebene, von der aus man die Brücken erreicht? Wenn ja, wie gelange ich nach unten?
     
    Ich sitze gegen die Korridorwand gelehnt, warte stundenlang vergeblich auf eine Treppe, eine Tür, eine Öffnung in die Tiefe. Irgendwann gelange ich zu der Überzeugung, daß es keine Tiefe gibt, nur ein Innen und ein endloses, unerreichbares Außen. Der Hunger verursacht mir Krämpfe, der Durst Kopfschmerz und Schwindel. Das Warten ist eine Tortur.
    Ein kleines weißes Objekt schwebt lautlos durch eine der Passagen, erregt jäh meine Aufmerksamkeit. Es fliegt in Parabeln und kommt dabei in einem sanften Bogen auf mich zu. Ich will zurückschrecken, aber die Wand in meinem Rücken hindert mich. Zuerst halte ich das Gebilde für einen Vogel, doch es ist eine Papierschwalbe. Ich erkenne es, ehe sie ein Drittel der Kabine durchflogen hat und vor meinen Füßen sanft zu Boden gleitet.
    Sssst, und sie liegt still.
    Ich schiele hinüber zur Passage, versuche zu erkennen, wer sie geworfen hat. Schließlich ein zögerliches Inspizieren des Nachbarraumes – als ob ich es nicht schon wissen würde: niemand hat sie geworfen. Der Raum ist leer. Ich laufe zurück, hebe die Papierschwalbe auf. Sie ist perfekt gefaltet, absolut symmetrisch, wie maschinell gefertigt. Auf ihren Flügeln und den beiden Seiten des Rumpffalzes prangt ein großes ›L‹ wie das Symbol einer Airline.
    Ein Symbol …
    Meine Hand zittert. Meine Knie ebenfalls, aber das registriere ich in

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