Lord Gamma
Sekunde lang lähmte mich die Angst, im Gestein steckenzubleiben und ersticken zu müssen, dann umgab uns ein neues, natürlicheres Licht …
… und eine andere Welt.
Jenseits der Mauer gedieh ein tropischer Wald. Baumriesen, deren Kronen das Licht von der Gewölbedecke in alle erdenklichen Grün- und Gelbtöne filterten, ragten ringsum auf. Ich blinzelte in das strahlende Etwas über den Wipfeln. War die Sonne über mir echt?
Der grüne Dom hallte wider von schrillen Vogelstimmen, Horden kreischender Klammeraffen zogen hoch über dem Boden durch die Wipfel. Orchideen und meterhohe Urwaldblüten, die an Farbenpracht einzig von schillernden Schmetterlingen übertroffen wurden, leuchteten aus dem grünen Dämmerlicht. Rechts von mir lag der Ausläufer eines Flußarmes. Etwas, das mich an eine riesige Ratte erinnerte, pflügte darin auf das mir nächstgelegene Ufer zu. Das Tier hatte seinen Kopf übers Wasser erhoben und fixierte mich beim Schwimmen. Erst als es ans schlammige Ufer lief und sich die Nässe aus dem borstigen Fell schüttelte, entpuppte sich die vermeintliche Riesenratte als ausgewachsenes Wasserschwein. Es warf mir mißtrauische Blicke zu, bevor es schnaubend im Dickicht verschwand.
Ich war reglos stehengeblieben, schon nach wenigen Sekunden am gesamten Körper schwitzend und erste Mücken anlockend. Der Regenwald war real! Unter seiner feuchtwarmen, windstillen Brutglocke wucherte er wie ein endloses Schlinggewächs. Sein dichtes, fast geschlossenes Blätterdach in fünfzig bis sechzig Metern Höhe schluckte die Strahlen der im Zenit stehenden Sonne und tauchte den Boden in nebelhaftes Dämmerlicht. Die Luft roch nach Ozon, wie nach einem Gewitterregen. Pilze wuchsen in allen erdenklichen Farben und Formen aus dem Boden und aus umgestürzten, verrottenden Baumstämmen.
Ich sah mich um, doch zu meiner Verwunderung bot sich auch hinter mir das Bild des Urwalds.
»Wo ist die Mauer geblieben?«
»Du stehst genau vor ihr«, sagte Sebastian.
»Ich sehe sie nicht.«
»Das weiß ich.«
Ich streckte die Arme aus und lief zweifelnd einen Schritt nach vorn. Meine Hände trafen auf ein unsichtbares Hindernis, das sich wie massives Gestein anfühlte. Es war, als stemmte ich mich gegen eine Wand aus reinstem Kristall, doch der Wald, den ich durch sie erblickte, war weder eine Kulisse noch eine Spiegelung, sondern die nahtlose Fortführung meiner Umgebung.
»Denke nicht darüber nach«, empfahl mir Sebastian. »Du kommst auf keinen grünen Zweig. Hier beginnt das Spiel. Jeglicher Vorsprung, den man sich draußen erkämpft hat, ist nahezu ohne Bedeutung. Alles entscheidet sich innerhalb dieser Grenzen. Komm, hier geht’s lang. Babalon erwartet dich …« Sebastian wandte sich um und folgte einem kaum erkennbaren Pfad, der durch den Wald führte.
»Und wohin soll’s gehen?«
»Zur Brücke.« Er sah über seine Schulter. »Zur Brücke des Schicksals.«
Ich war mir sehr bald darüber im Klaren, daß ich ohne Sebastians Führung bereits nach zehn Schritten vom Weg abgekommen wäre. Die Sicherheit, mit der er immer wieder auf den Pfad zurückfand, war bemerkenswert, ja geradezu unheimlich. Er stapfte durchs Dickicht, als ziehe sich unter dem Teppich aus Moos, faulendem Laub und Erde eine nur für ihn erkennbare, leuchtend rote Linie entlang, der er stur folgte. Einmal führte er mich in brusthohes Wasser, und ich dachte bereits, das wäre das Ende. Doch Sebastian watete weiter. Nach etwa zweihundert Metern gelangten wir wieder aufs Trockene – und zurück auf unseren Pfad. Nun wieder deutlicher sichtbar, folgte er nach kurzem Anstieg einem schmalen, still dahinfließenden Bach. Es kam mir vor, als wären wir bereits stundenlang unterwegs. Seit ich die Mauer durchdrungen hatte, fühlte ich mich völlig ausgelaugt. Rechter Hand begann sich eine Anhöhe oder der Ausläufer eines Höhenzuges zu erheben. Ich blieb für ein paar Sekunden stehen, hatte den Eindruck, schon einmal hier gewesen zu sein. Mein Körper war trotz des Polyesteranzuges von Dornen zerstochen und zerkratzt. Mit stumpfen Blicken sah ich auf den Wasserlauf und die tropischen Wunder ringsum, war erschlafft am ganzen Körper. Wohin ich schaute, wimmelte es von winzigen bis handgroßen Insekten; Ameisen, Fangschrecken, Käfern, Mücken, Tausendfüßlern, Spinnen. Sie waren auf dem Boden, auf den Pflanzen, auf dem Wasser, in der Luft, auf mir … Ich wollte gar nicht wissen, wie viele ich bereits mit meinen blanken Sohlen zertreten hatte. Die
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