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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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seinen großen Innenraum zuviel Auftrieb besaß und abzutreiben drohte. Eine Stunde stand ich im Fluß, während das Wageninnere voll lief. Als der Bus nahezu abgesoffen und kein anderes Fahrzeug aufgetaucht war, gab ich es auf und watete ans Ufer. Alles, was ich hatte retten können, waren mein Fotokoffer und eine Straßenkarte, in der zwar der Fluß, jedoch nicht die Straße eingetragen war, auf der ich stand. Meiner Schätzung zufolge wären es etwa fünfzehn bis zwanzig Kilometer zu Fuß gewesen, ehe ich die Ausläufer von Tortuguero erreicht hätte – vorausgesetzt, die Straße hätte wirklich dorthin geführt. Ich rechnete mit fünf oder sechs Stunden Fußmarsch, falls mich kein vorbeikommender Wagen mitnehmen würde.
    Die schwere Fotoausrüstung versteckte ich abseits der Straße, um sie am nächsten Tag abzuholen, und marschierte los. Was mich beeindruckte und zugleich beunruhigte, waren die vielen Indio-Artefakte, die ich zu Gesicht bekam. Hinter jedem Baum oder Riesenfarn lauerte eine indianische Skulptur. Zugleich war mir bewußt, daß die Cabaitre nicht zu der Sorte Indios gehören, die entlang der Touristenrouten Souvenir-Verkaufsstände betreiben oder sich für ein paar Colon als Urlaubsmotiv ablichten lassen. Seit das Landwirtschaftsministerium 2011 eine Ausweitung der Bananen-Anbauflächen und die daraus resultierende Verkleinerung der Reservate beschlossen hat, ist mit den Indios nicht mehr gut Kirschen essen. Zudem kämpfen sie mit allen Mitteln gegen den Einsatz der C-Waffen, mit denen die an die Reservate grenzenden Plantagen gegen Bakterien, Pilze, Würmer und Insekten gedüngt und besprüht werden; Mittel wie Clorotalonil, Calixin oder Benlate. Sie sehen sich als Afectados, als Betroffene, weil das Zeug von den Plantagen in die Flüsse und somit auch in die Fische gelangt, von denen die Indios leben. Einige hundert Cabaitre haben das innerhalb von eineinhalb Jahren mit lebenslanger Sterilität gebüßt. Sie haben der Regierung schleichenden Völkermord vorgeworfen und stehen seither mit allen ›Bananenbeschützern‹ auf Kriegsfuß; und auch mit sonst jedem, der in ihr angestammtes Gebiet eindringt und irgendwie aussieht, als hätte er etwas mit ihrer Misere zu tun.
    Nach etwa zwei Stunden setzte der Regen ein. Die Einheimischen nennen ihn Aguacero. Es ist ein täglicher Platzregen von der Gewalt eines Staudammbruchs. Bald darauf stieß ich auf einen zweiten Fluß ohne Brücke – für costaricanische Verhältnisse durchaus gewöhnlich, wie ich später erfuhr. Der Flußlauf war nicht ganz so breit wie der, in dem der VW-Bus stand, etwa an die siebzig Meter. Es war bereits später Nachmittag, und ich war beunruhigt, da ich befürchtete, die Nacht im Dschungel verbringen zu müssen. Daher war mein einziges Bestreben, den Fluß so schnell wie möglich zu durchqueren. Was mir nach wenigen Metern jedoch sehr schnell bewußt wurde, war die Tatsache, daß das Wasser wesentlich tiefer als einen Meter war und aufgrund der Niederschläge nicht gerade gemächlich dahinfloß. Ich war gezwungen zu schwimmen, und fragte mich dabei, wie der Lastwagen diese Passage gemeistert haben konnte, ohne zu kentern. Trotz meiner Bemühungen riß mich die Strömung mit, und als ich endlich das andere Ufer erreichte, war ich bereits ein paar hundert Meter weit von der Straße abgetrieben worden. So fand ich mich mitten im Urwald wieder und wußte nicht mehr, wo vorne und hinten war. Zur Straße fand ich nicht mehr zurück, stieß jedoch auf dieses Tal und den Pfad – und auf diese Konservendose.
    Was jedoch bedeuten würde …
    Ich ließ die Büchse fallen und sah den Hang hinauf. Die Bewegung zwischen den Bäumen war kaum wahrnehmbar. Sie erinnerte an einen unsichtbaren Körper, der durch den Dunst huschte und ihn durch seine Masse verdrängte. Wenn er verharrte, sah es aus, als befände sich ein Loch in den Schwaden. Es ähnelte einer aufrecht stehenden Gestalt mit langen, bis zum Boden hängenden Armen.
    »Sebastian«, rief ich meinem Weggefährten nach, »warte!«
    Sebastian sah in die Bäume, als suchte er die ihn rufende Stimme in ihren Wipfeln, dann blieb er stehen und sah zu mir zurück. Unvermittelt ertönte neben mir ein Zischen, und etwas Massiges traf meinen Nacken mit solcher Wucht, daß ich vornüber geschleudert wurde. Haltlos rutschte ich hangabwärts, gleichzeitig schlang sich etwas um meinen Hals und meinen Oberkörper. Der abschüssige Boden und der feuchte Bewuchs ließen mich keinen Halt finden. Ich

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