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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Pfad entlang der Mauer beschrieb, ließ sie mich letztlich aus den Augen verlieren.
    »Stan«, erklang unversehens eine Stimme in meiner Nähe. Ich blieb stehen, schaute mich suchend um. Kein Mensch war zu sehen. »Hier entlang«, forderte mich die Stimme auf. Ich glaubte, meinen Ohren nicht trauen zu können. Die Worte kamen aus der Mauer!
    Waren in einige der Felsquader etwa getarnte Türen eingelassen, die man nur zu öffnen brauchte? Zweifelnd legte ich die Hände ans Gestein, preßte ein Ohr dagegen, lauschte. Nichts war zu hören. Ich ließ meine Fingerkuppen über die Mauer wandern, ohne genau zu wissen, wonach ich suchte; nach Schlüssellöchern, Türritzen, Knöpfen … Fünf Finger wuchsen plötzlich aus dem Fels, griffen nach meinem linken Handgelenk. Erschrocken riß ich mich los, trat ein paar Schritte zurück, starrte auf einen Unterarm, der wie ein bizarres Gewächs aus der Mauer ragte. Einem Gespenst gleich trat schließlich ein Spieler aus dem Gestein, sah mich belustigt an. Sein ehemals schwarzer Babalon-Anzug war schmutzig-grau und zerlumpt, der rechte Ärmel fehlte.
    »Was ist los?« fragte mein Gegenüber. »Warum so schreckhaft?«
    »Sebastian?« Ich musterte den Mann verdutzt. Er gehörte nicht zu meinen elf Kontrahenten, mußte der Spieler einer zurückliegenden Runde sein. Sebastian war leicht untersetzt, ein paar Zentimeter kleiner als ich, besaß eine zu kleine Nase und ein fliehendes Kinn. Er erinnerte mich an ein dickes Wiesel. Babalon fand nur einmal im Monat statt. Mein Gegenüber wirkte, als kämpfe es sich seit just dieser Zeit durch die Wildnis. Seine braunen Haare hingen ihm strähnig ins Gesicht, unter seinen Augen lagen Ringe, so dunkel, als hätte er sich geprügelt. Er verströmte einen Geruch wie ein nasser Tapir. Dem zum Trotz war er frisch rasiert.
    »Wie machst du das?« fragte ich.
    »Was?« Sebastian sah an sich herab, wandte sich um und stand wieder halb in der Mauer. »Ach, du meinst den Wall«, drang seine Stimme aus dem Gestein. »Das ist recht einfach: es gibt ihn nicht. Lauf einfach hindurch.«
    Ich zögerte, musterte Sebastian, wie er fast völlig vom Gestein verschluckt auf mich wartete. Lediglich sein rechter Arm und sein rechtes Bein ragten jeweils zur Hälfte heraus. War er es, der nicht real war, oder die Mauer? Ich trat einen Schritt nach vorne, berührte wie zufällig seine Schulter …
    »Was tust du?« wollte Sebastian wissen. Anscheinend beobachtete er mich aus dem Gestein heraus.
    »Prüfen, ob ich dem, was ich sehe, glauben kann.«
    Ich hörte Sebastian lachen. »Verlaß dich nicht darauf«, meinte er.
    Ich ging mit gemischten Gefühlen auf die Mauer zu, hielt die Luft an, schloß die Augen – und prallte gegen das Gestein. Fluchend hielt ich mir die schmerzende Stirn. Meine Nase, die ich mir bereits beim Stranden geprellt hatte, begann wieder zu bluten.
    Sebastian trat ins Freie und stellte sich kopfschüttelnd neben mich. »Ehrlich, ich hab’s nicht glauben wollen«, murmelte er.
    »Was?« fragte ich gereizt. »Daß hier eine Mauer steht?«
    »Nein.« Er musterte mich nachdenklich. »Daß du keine Ahnung von Babalon hast.«
     
    Auch meine nächsten acht Versuche scheiterten trotz Sebastians Bemühungen, mir mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Selbst als er meine Hand nahm und mich mit sich in die Mauer ziehen wollte, wurde ich durch das Gestein aufgehalten. Meine Ellbogen, meine Knie, mein Schädel, alles schmerzte von der Konfrontation mit dem massiven Fels. Ich fühlte mich wie ein Idiot, beschimpfte Sebastian, mich für die Zuschauer in der ersten Ebene zum Kasper zu machen. Zum Schluß war ich davon überzeugt, daß Sebastian ein Element des Spiels war.
    »Es geht nicht!« erklärte ich.
    »Dein Verstand sagt dir, daß es nicht geht«, konterte er, »daß ein Mensch sich nicht durch Stein bewegen kann.«
    »Sehr richtig. Und deshalb lasse ich mich nicht länger zum Narren halten.«
    »So wie der dort?« fragte Sebastian und deutete den Hang hinab. Ich folgte arglos seiner Geste. Nichts und niemand war zu sehen, nur einer der Tretwasserbälle, der leer auf dem See trieb. Es war ein grottendämliches Ablenkungsmanöver, aber ich war zu entnervt, um rechtzeitig zu schalten. Sebastian nutzte meine Achtlosigkeit jäh aus. Ehe ich reagieren konnte, hatte er mich gepackt und nach hinten gerissen. Von einem Moment zum anderen war alles um mich herum finster. Ich fühlte keinerlei Widerstand, nur Sebastians Griff, der mich durch die Dunkelheit zog. Eine

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