Lord Gamma
Hälfte der brennenden und juckenden Hautstellen rührte bestimmt nicht von Pflanzendomen …
»Was ist los?« erkundigte sich Sebastian, der ebenfalls stehengeblieben war.
Ich schreckte auf. »Nichts. Nur so ein merkwürdiges Gefühl …«
»Das nennt sich Déjà vu«, meinte mein Begleiter.
Ich sah Sebastian an, kratzte mich, wo ich nur konnte, und entschied: »Unsinn.«
Sebastian zuckte die Schultern und lief weiter. Ein paar Meter hangabwärts plätscherte der Bach im Dickicht. Ich ließ meinen Blick schweifen. Das eigenartige Gefühl, schon einmal an diesem Ort gewesen zu sein, steigerte sich. Mein Begleiter lief langsamer, hielt hin und wieder inne und lauschte. »Wenn Nikobal feststellt, daß ich einen Spieler unterstütze, löscht er meinen Code und läßt mich hier unten verrotten«, murmelte er.
»Wie meinst du das?«
»Nun, eine Frau, die einen neuen Mann in die Oberschicht wählen darf, wird nicht mehr auf mich zugreifen können. Ich kann nicht mehr aufsteigen.«
»Nur, weil du mich führst?«
»Ja. Ich bin ein unlauteres Hilfsmittel.«
»Dann ist es wohl so etwas wie eine Doping-Sperre«, scherzte ich.
»Sozusagen. Nur, daß in diesem Fall nicht der Spieler, sondern das Dopingmittel auf Lebenszeit gesperrt wird …«
»Mir droht keine Strafe?«
»Weißt du denn gar nichts über Babalon und seine Regeln?« Sebastian schüttelte den Kopf. »Langsam glaube ich, du kommst aus einer anderen Welt. Oder dir ist gewaltig was auf den Kopf gefallen.«
Ich antwortete nicht, sondern war erneut stehengeblieben und blickte hangaufwärts. Wenige Meter über dem Pfad hatte ich eine unerwartete Form zwischen den Farnen erspäht, fast wie durch Zufall, so schien es, aber was ich sah, ließ mich zittern. Ich lief zu dem Objekt und hob es auf. Es gehörte nicht hierher – durfte nicht hierher gehören!
Was ich in der Hand hielt, war eine leere Konservendose. Der Deckel war mit roher Gewalt aufgeschnitten worden, im Inneren schwammen ein paar faulige Bohnen in stinkendem Regenwasser, das sich in ihr gesammelt hatte. Sie konnte noch nicht lange hier liegen, denn das Metall war kaum von Rost befallen. Ihr Etikett war durch die Feuchtigkeit aufgeweicht und löste sich bereits beim Aufheben ab. Porota Colorada prangte in roter Schreibschrift darauf, darüber handschriftlich der Name Luis, notiert mit einem Kugelschreiber.
Es war nichts weiter als eine ordinäre Konservendose. Das Beängstigende daran war: Ich hatte diese Dose schon einmal in der Hand gehalten, das Etikett und den Namen gelesen, gehofft, noch etwas Eßbares in ihr zu finden – vor über sechs Jahren, in Costa Rica, etwa zwanzig Kilometer nördlich von Puerto Limón!
Damals arbeitete ich für eine kleine New Yorker Fotoagentur und erhielt den Auftrag, eine Dokumentation für einen Reisekatalog abzuliefern. Im Land angekommen, nahm ich den Zug von Limón bis Guápiles und mietete mir dort einen alten VW-Bus, mit dem ich durch den Tortuguero-Nationalpark in die gleichnamige Küstenstadt fahren wollte, eine Strecke von knapp sechzig Kilometern. Auf halber Strecke rutschte mir der Bus beim Ausweichen vor einem Schlagloch in den Straßengraben und setzte auf. Zwei Stunden später tauchte endlich ein Lastwagen auf, und nachdem ein paar Colon für einen Kasten Cerveza den Besitzer gewechselt hatten, erklärte sich der Fahrer bereit, den Wagen aus dem Graben zu ziehen. Bald stellte sich jedoch heraus, daß der Stabilisator und das rechte Traggelenk der Vorderachse gebrochen waren. Weiterfahren wäre nicht mehr möglich gewesen. Da ich den Bus nicht im Wald zurücklassen wollte, entschloß ich mich, ihn bis nach Tortuguero schleppen zu lassen.
Der Fahrer des Lastwagens benutzte eine Nebenstrecke, von der er behauptete, sie führe zwar durch ein Indioreservat, sei aber um ein Drittel kürzer. Auf dem Weg fehlte plötzlich eine Brücke, und ich mußte mich vom Lastwagen durch einen Fluß ziehen lassen. Das Wasser war etwa einen Meter tief und die Passage dreihundert Meter lang. Ich hatte alle Ritzen mit Isolierband zugeklebt und war durchs Fenster eingestiegen. Der Fahrer des Lastwagens fuhr langsam, und ich folgte ihm brav an seinem Heck. Alles ging gut, und es drang kaum Wasser ein, bis vierzig Meter vor dem rettenden Ufer die zwei Seile rissen, an die der Bus gehängt war. Der Fahrer des Lastwagens suchte aus Angst, er könne selbst steckenbleiben, das Weite. Ich stieg zum Fenster aus und versuchte, den Bus an den Seilresten zu halten, da er durch
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