Lord Stonevilles Geheimnis
Kopfende des Tischs. Aber er setzte sich nicht hin.
»Sie können jetzt auftragen«, sagte seine Großmutter zu dem Diener, der hinter ihr stand.
»Noch nicht.« Oliver nickte den Dienern zu. »Lassen Sie uns allein.«
»Was um alles in der …«, begann seine Großmutter.
»Das ist ein recht opulentes Dinner, meinst du nicht, Großmutter?« Oliver wartete, bis die Diener weg waren, dann trat er an das Sideboard und hob die Hauben auf den Servierplatten eine nach der anderen hoch. »Kalbsfilet. Lendenbraten vom Rind in Rotweinsoße. Garnelen und Hummer …« Er sah seine Großmutter aufgebracht an. »Du hast deinen französischen Koch mitgebracht und offensichtlich auch stattliche Portionen von den teuersten Erzeugnissen der Londoner Märkte.«
»Es gibt keinen Grund, warum ich nicht gut essen sollte, solange ich hier bin«, entgegnete sie pikiert.
»Außer der Tatsache, dass es mein Haus ist.« Er ging wieder an den Kopf des Tischs. »Du bist bei mir, also wirst du – wie wir anderen auch – das essen, was das Gut zu bieten hat, nämlich Reh und Hammel und Rebhuhn. Es werden keine Bienenwachskerzen mehr verschwendet, und wir richten auch nur die Räume her, die wir unbedingt brauchen.«
»Ich bitte dich, Oliver …«
» Meine Bediensteten können sich um dich kümmern, also wirst du deine morgen früh nach London zurückschicken. Und wenn dir das alles nicht passt, schlage ich vor, dass du ebenfalls nach London zurückkehrst.«
Seine Großmutter sah ihn grimmig an. »Ich nehme an, das ist deine Art, mich für das Ultimatum zu bestrafen, das ich euch fünf gestellt habe.«
»Keineswegs. Aber das hier ist nun einmal mein Gut. Du hast noch nie Geld hineingesteckt und wirst es auch jetzt nicht tun. Ich kümmere mich selbst um alles.« Sein Ton wurde schärfer. »Sieh es einfach so: Auf diese Weise sehen meine Geschwister, was sie erwartet, wenn sie deinen Forderungen nicht nachkommen.«
Die alte Dame sah ihn prüfend an. »Und ich soll so viel Mitleid mit ihnen bekommen, dass ich einlenke, nicht wahr?«
»Du wolltest, dass ich Interesse für das Gut zeige, und genau das tue ich jetzt. Das sind meine Bedingungen.«
»Na schön, wie du wünschst«, sagte sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Aber heute Abend sind die Diener hier, und das Essen ist bereits angerichtet, also könnt ihr es euch auch schmecken lassen.«
Er zögerte einen Augenblick, bevor er in diesem Punkt nachgab und nickte.
»Gott sei Dank«, murmelte der blonde Lord Gabriel, der auf Marias anderer Seite saß. »Ich liebe Garnelen.«
»Ich auch«, sagte Freddy.
Maria beachtete die beiden nicht, denn sie beobachtete Oliver die ganze Zeit und versuchte, aus ihm schlau zu werden. Nun rief er die Diener wieder herein und nahm steif am Kopfende des Tischs Platz. Anscheinend besaß er doch mehr Stolz, als es seine arroganten, verächtlichen Äußerungen vermuten ließen.
Bislang hatte sie ihn einfach für einen verwöhnten reichen Mann gehalten, für den die leiblichen Genüsse an erster Stelle standen. Doch seine Verärgerung über die Großmutter passte nicht in dieses Bild.
Ebenso wenig sein scheinbarer Hass auf das Gut. Der muffige Geruch in den Räumen zeigte, dass das Haus wirklich lange unbewohnt gewesen war, so wie er es ihr gesagt hatte. Aber warum ließ jemand ein derart prächtiges Gut verfallen? War es nur eine Frage des Geldes? Oder hatte es etwas mit dem leidvollen, traurigen Ausdruck zu tun, den sie nun schon häufiger in seinen Augen gesehen hatte, seit sie auf Halstead Hall eingetroffen waren?
Eines war jedenfalls sicher: In diesem Marquess von Stoneville steckte mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein hatte. Und offensichtlich war sein Streit mit der Großmutter von größerer Bedeutung, als sie geahnt hatte.
Maria schaute verstohlen zum anderen Ende des Tischs, wo Mrs Plumtree saß. Sie war ebenso stur wie Oliver und genauso entschlossen, ihren Kopf durchzusetzen. Irgendetwas brodelte unter der Oberfläche, wann immer sich die beiden stritten, und Mrs Plumtree bot ihrem Enkel stets Paroli. Sie war nicht einmal ins Wanken geraten angesichts der schockierenden Umstände, wie er Maria vorgestellt hatte. Doch ging es bei dem Konflikt der beiden nur um das Ultimatum, das sie gestellt hatte? Oder stand noch etwas anderes zwischen ihnen, das schon lange zurücklag?
Es sah nicht danach aus, als hegten seine Geschwister einen ähnlichen Groll gegen die
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