Lord Stonevilles Geheimnis
Oliver.«
Oh ja. Wie Lord Rockton hatte er einen trockenen Humor, einen scharfen Verstand und das Gesicht eines Prinzen, wenn auch eines italienischen. Und er gab genauso wenig auf die Ehre eines Gentleman wie die Romanfigur und war ebenso fest entschlossen zu bekommen, was immer er wollte.
Doch Maria erkannte allmählich, dass er nicht durch und durch ein Schurke war. Er kümmerte sich beispielsweise um seine Familie. Wie er über seine Geschwister und ihr Recht, selbst über ihre Vermählung zu entscheiden, gesprochen hatte, deutete darauf hin, dass es ihm bei dieser Maskerade nicht nur um sein eigenes Wohl ging, sondern um das Wohl aller.
Und obwohl er offensichtlich von Anfang an beabsichtigt hatte, sie als Dirne hinzustellen, um seine Großmutter zu schockieren, war er überraschend schnell umgeschwenkt, als sie sich dagegen zur Wehr gesetzt hatte. Statt sie in Ketten abführen zu lassen, nachdem sie ihm das Knie zwischen die Beine gerammt hatte – was er durchaus hätte tun können –, hatte er sein Angebot, nach ihrem Verlobten zu suchen, noch einmal wiederholt. Abgesehen davon hatte er ihr einen Ausweg eröffnet und ihr versprochen, sie am morgigen Tag gehen zu lassen, wenn sie es wünschte.
Sie wusste natürlich nicht, ob sie ihm vertrauen konnte. Er war furchtbar arrogant, unleidig und obendrein unerträglich zynisch. Doch manchmal, wenn er diesen gequälten Ausdruck in den Augen hatte, tat er ihr beinahe leid.
Aber das war einfach lächerlich. Wenn sie Mitleid mit jemandem wie ihm hatte, stimmte mit ihr ganz offensichtlich etwas nicht.
»Rockton ist Oliver nicht ähnlicher als Churchgrove Lord Kirkwood«, erklärte Lady Minerva mit Nachdruck.
»Warum hast du ihn dann nach mir benannt?«, fragte Oliver.
»›Stone‹ und ›Rock‹ sind ja nun wirklich nicht dasselbe, alter Knabe«, sagte Lord Gabriel. »Und du weißt doch, dass Minerva dir ganz gern mal eins auswischt.«
»Nenn mich nicht ständig ›alt‹, verdammt«, knurrte Oliver. »Ich bin doch kein Tattergreis!«
»Wie alt bist du eigentlich?«, fragte Maria amüsiert über seine Eitelkeit.
»Fünfunddreißig.« Mrs Plumtree hatte bisher nur wenig gesagt, doch nun hatte das Gespräch anscheinend ihr Interesse geweckt. »Damit ist er weit über das Alter hinaus, in dem ein Mann heiraten sollte, finden Sie nicht, Miss Butterfield?«
Da Maria spürte, wie Olivers Blick auf ihr ruhte, wählte sie ihre Worte mit Bedacht. »Ich würde sagen, es hängt von dem jeweiligen Mann ab. Papa hat auch erst mit Anfang dreißig geheiratet. Vorher war es ihm nicht möglich, einer Frau den Hof zu machen, weil er im Unabhängigkeitskrieg gekämpft hat.«
Als Mrs Plumtree erbleichte, trat ein triumphierendes Funkeln in Olivers Augen. »Ach ja, der Unabhängigkeitskrieg. Ich glaube, ich vergaß zu erwähnen, dass Mr Butterfield in der Kontinentalarmee diente.«
Es wurde still am Tisch. Lady Minerva konzentrierte sich darauf, ihre Suppe zu löffeln, Lady Celia trank gleich mehrere Schlucke Wein hintereinander, und Lord Jarret starrte in seine Suppentasse, als wäre das Geheimnis des Lebens in ihr verborgen. Nur ein leises »Verdammt!« von Lord Gabriel durchbrach die Stille.
Hier hing ganz offensichtlich etwas in der Luft, das Maria nicht verstand. Oliver beäugte seine Großmutter abermals wie ein angriffslustiger Wolf, und Mrs Plumtree schien zu überlegen, mit welcher Waffe sie sich den Wolf am besten vom Leib halten konnte.
»Onkel Adam war ein Held«, erklärte Freddy, der wieder einmal nicht merkte, was rings um ihn vor sich ging. »Bei der Schlacht von Princeton hat er zehn Briten in Schach gehalten, bis Hilfe eintraf. Er hatte nur sein Bajonett, mit dem er auf seine Gegner eingestochen hat …«
»Freddy«, zischte Maria ihm zu, »unsere Gastgeber sind Briten!«
Freddy stutzte. »Oh, stimmt.« Er schwenkte seinen Löffel. »Aber der Krieg ist schon lange her. Heute kümmert das niemanden mehr.«
Ein Blick in Mrs Plumtrees versteinertes Gesicht verriet Maria, dass das Gegenteil der Fall war. »Ich würde sagen, für Olivers Großmutter ist es von Bedeutung.«
Mrs Plumtree richtete sich auf. »Mein einziger Sohn war auch ein Held. Aber er ist im Kampf gegen die Kolonisten gefallen.«
Maria wurde das Herz schwer. Wie konnte Oliver seiner Großmutter nur so etwas antun? Sie warf ihm einen zornigen Blick zu, aber er merkte es nicht, denn er starrte seine Großmutter trotzig an. Warum
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