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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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erreichte sie das Ende.
    Erst stieß ihr rechter Fuß auf Widerstand, wo eigen t lich Leere hätte sein sollen, und als sie den linken vo r sichtig nachzog, fand auch er festen Untergrund. Eine Wasserpfü t ze hatte sich auf dem Fels angesammelt, nicht einmal knöchelhoch, was bedeutete, dass es einen Ablauf geben musste. Doch so angestrengt sie auch mit Händen und Füßen nach Öffnungen in den Wänden oder im B o den tastete, so wenig Erfolg hatte sie. Der Schacht war tatsächlich zu Ende.
    Sie hätte enttäuscht sein müssen, niedergeschmettert nach all der Anstrengung, die es sie gekostet hatte, bis hierher zu gelangen. Doch in Wahrheit fühlte sie sich nur leer, wie ausgebrannt. Fees Vater war für ein Trugbild gestorben.
    Sie versuchte, in die Hocke zu gehen, stieß schmer z haft gegen kantigen Fels und sah für einen Augenblick nur gleißende Funken, die vor ihren Augen tanzten. Dann aber machte sie einen zweiten Versuch, diesmal vorsic h tiger. Mit beiden Händen patschte sie durch das eiskalte Wasser am Boden. Sie fand allerlei Geröll und ein paar Würmer. Schließlich aber entdeckte sie etwas mit glatter, facettenförmig geschliffener Oberfl ä che, etwa so groß wie eine reife Pflaume. Einen Moment lang wog sie es unschlüssig in der Hand, dann steckte sie es in den Schaft ihres rechten Stiefels und richtete sich auf. Durchgefr o ren und mit schmerzendem Rücken machte sie sich an den Aufstieg.
    Sie hatte das Gefühl, dass der Weg nach oben die zehnfache Zeit des Abstiegs in Anspruch nahm. Der schräge Verlauf des Schachts machte es ihr ein wenig leichter, doch sie kam trotz allem immer näher an die Grenzen ihrer Kraft. Sie spürte ein Ziehen in Armen und Beinen, und in ihrer linken Wade kündigte sich ein Krampf an. Sie ve r suchte es mit Strecken und Schütteln, doch der Schmerz blieb. Also kletterte sie weiter und versuchte sich vorzugaukeln, alles sei in Ordnung. Das ging genau so lange gut, bis der Schmerz sich um ihr Bein schloss wie das zuschnappende Maul eines Ung e heuers, und sie eine Weile lang überhaupt nichts mehr tun konnte, außer sich mit Rücken und Knien zwischen die Felswände zu klemmen, leise zu wimmern und den erstarrten Wadenmuskel mit beiden Händen zu massi e ren.
    Irgendwann schob sie sich weiter, jetzt noch langs a mer, u nd bald schon fiel ihr von oben Tageslicht en t gegen. Beim Anblick des schwachen Schimmers ve r spürte sie eine Erleichterung, die sie fast hätte losj u beln lassen.
    Sie kam dem Ausstieg jetzt immer näher. Das letzte Stück dehnte sich schier ohne Ende, und endlich fehlte nur noch eine Armlänge bis zum Rand der Öffnung.
    Sie zog sich gerade auf den Vorsprung, auf dem das Echomädchen gesessen hatte, als sie von oben Geräusche vernahm.
    Diesmal war es keine Einbildung wie unten im Berg. Sie hörte tatsächlich etwas. Schritte auf glattem Fels. Flüsternde Stimmen. Dann das Quieken eines kleinen Tieres in Todesangst. Einen Augenblick später wurde ihr etwas entgegengeschleudert, traf sie feucht und stra m pelnd im Gesicht, riss ihr mit seinen Klauen die Wange auf und ve r schwand dann unter ihr im Abgrund. Zitternd hob sie ihre Hand, streifte mit den Finge r spitzen über ihr Gesicht und betrachtete sie dann im fahlen Licht des T a ges.
    Blut. Zu viel, um ihr eigenes zu sein. Jemand hatte das Tier – eine Katze vielleicht – bei lebendigem Leibe au f geschlitzt und in den Schacht geworfen.
    Ein, zwei Herzschläge lang wurde ihr ganzer Körper so starr wie der Fels. Nichts gehorchte ihr, nicht einmal ihr Denken. Alles flackerte durcheinander, Bilder des Mä d chens im Schacht, das genauso dagesessen hatte wie jetzt sie selbst, Eindrücke aus der Dunkelheit, Gesten und Momente daheim in der Burg, und dann die Stimme des Hän d lers: Man sagt, die Naddred seien zurückgekehrt. Immer wieder dieses Wort. Naddred!
    Jeden Augenblick würde irgendwer über den Rand der Öffnung blicken und sie entdecken. Ailis schloss die A u gen, zählte bis zehn. Nichts geschah. Kein Ausruf der Überraschung. Kein Befehl, sie ins Freie zu zerren und aufzuschlitzen wie das Opfe r tier.
    Ihr Herz raste. Sie versuchte zu lauschen, doch alles was sie hörte, war ihr eigener Puls, der in ihren Ohren klopfte. Unendlich langsam richtete sie sich auf dem Vorsprung auf, wagte aber nicht, sich dabei an der Schachtkante festzuhalten, aus Furcht, jemand könnte ihre Finger bemerken.
    Der Krampf in ihrer Wade war noch immer nicht ganz geschwunden, und sie hatte Mühe, auf dem Vorsprung

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