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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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entweichen wollte, ein blutverschmiertes Messer hielt. Er musste derjenige sein, der das Tieropfer dargebracht hatte. Wahrscheinlich der Anführer. Er war groß und dürr; an d en Rändern seines Kapuzenschattens quoll langes schneeweißes Haar hervor.
    Etwas warnte sie, ihm nicht zu nahe zu kommen. Im letzten Moment wechselte sie die Richtung, nahm einen geringfügigen Umweg in Kauf und näherte sich zwei and e ren Männern. Beide flüsterten mit geschlossenen Augen unverständliche Silben. Hätte Ailis jetzt den Arm ausg e streckt, hätte sie einen von ihnen berühren können. Allein die Vo r stellung jagte ihr einen Schauder über den Rücken.
    Noch zwei Schritte, dann war sie mit den Naddred auf einer Höhe. Beide hatten verschlossene, hellhäutige G e sichter, in die sich tiefe Falten gegraben hatten, nicht u n bedingt vom Alter. Ailis war viel zu angespannt, um sie näher zu betrachten. Ihr fiel lediglich auf, dass unter dem Kinn des einen ein faustgroßes Geschwür wuchs. Sein Flüstern klang heiserer als das der anderen.
    Noch einen Schritt.
    Sie bemerkte, dass sich die gemurmelten Silben und Sätze der Männer voneinander unterschieden. Sie schi e nen ihre Litanei leicht versetzt zu beten, wie beim G e sang eines Kanons in der Burgkapelle.
    Etwas veränderte sich. Plötzlich klang das Flüstern e i ne Spur schwächer. Hinter A i lis beendete der erste sein Gebet. Einen Augenblick später ein zweiter, dann jener neben ihm. Die Naddred verstummten reihum, einer nach dem anderen.
    Ailis machte einen hastigen Satz nach vorne. Keine Zeit mehr zum lautlosen Schleichen. Keine Zeit mehr für irgendetwas. Nur fort von hier. Fort!
    Acht Augenpaare öffneten sich. Acht Blicke trafen A i lis mit flammender Schärfe.
    Eine Hand packte sie an der Schulter. Ailis schüttelte sie a b. Mit einem Keuchen stolperte sie vorwärts. Kein Blick zurück. Nur nicht umschauen! Nur nicht sehen müssen, wer sie verfolgte!
    Das Flattern weiter Gewänder erfüllte die Luft. Aus den Augenwinkeln erkannte sie dunkle Formen, die ihr wie Schatten nachsetzten, blitzartig vorstießen, mit dü r ren weißen Knochenfingern nach ihren Armen und Schultern griffen, ins Leere packten.
    Vier, fünf Schritte hastete sie über den Fels, während sich der Ring der Naddred nach außen wölbte, aufriss, ihr in Form eines Hufeisens nachsetzte. Die Äußeren waren die schnellsten, vielleicht weil der Boden der Festung s ruine dort ebener war, nicht von Spalten und niedrigen Mauern durchzogen. Ailis sprang über einen kniehohen Wall aus losen Steinen, rannte weiter. Sie dachte nicht nach, konzentrierte alle Kraft auf ihre Beine, hetzte so schnell sie konnte durch die überwucherten Trümmer nach Norden, dorthin, wo der Rand des Plateaus in den Hang überging.
    Sie war schneller als die Naddred und gerade das machte den Sturz so ungerecht: Plötzlich verfing sich ihr linker Fuß in einer Efeuranke, sie stolperte, taumelte, schlug schreiend auf Knie und Handflächen. Der Rubin flog aus ihren Fingern und blieb wei t hin sichtbar auf dem blanken Felsboden liegen.
    Ein Raunen ging durch die Reihe ihrer Verfolger. E i ner stürzte vor, aber er packte nicht Ailis, sondern den Edelstein.
    Sie nutzte den Augenblick allgemeiner Verblüffung, um sich aufzurappeln. Ohne Zögern lief sie weiter, ließ den Stein zurück, stürzte nur vorwärts zum Rand des Pl a teaus, sprang von einer Felskante zwei Schritte tief nach unten, fing sich, jagte den Hang hinunter.
    Auf halber Strecke zum Ufer schaute sie sich zum er s ten Mal um, erst direkt hinter sich, und dann, als dort niemand war, weiter hinauf zum Hochplateau.
    Acht dunkle Schemen standen am Rande der Felsen, acht reglose Silhouetten vor dem Dämmergrau des Abendhimmels. Stumm, mit wirbelnden Gewändern, schauten sie Ailis nach. Sahen zu, wie sie weiter den Berg hinabstürmte. Sahen zu, wie ihr Opfer entkam.

3. Kapitel
     
    Rauch drang aus dem Tor der Schmiede, als Ailis in den Burghof stürzte. Erland war noch bei der Arbeit.
    Ailis kümmerte sich nicht um die verwunderten Bl i cke, die sie verfolgten, auch nicht um die spöttischen Bemerkungen, die man ihr nachrief. Sie rannte wie von Te u feln gehetzt über den Hof und riss den Eingang zur Schmiede auf.
    Erland schaute verwundert von der Glut in seiner Esse auf. Er war gerade dabei, mit einem Schürhaken die res t liche Kohle zusammenzuschieben, eine Aufgabe, die sonst Ailis erledigte.
    »Ich denke, du bist krank?«, begrüßte er sie mürrisch. Dann aber sah er die

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