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Loreley

Titel: Loreley Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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darauf sagen sollte, als er auf sie zutrat und sie zur Tür schob. »Geh jetzt«, sagte er müde. »Und komm nicht wieder her.«
    Sie versuchte gar nicht erst zu widersprechen. Ohne ein Wort verließ sie seine Kammer und blickte nicht z u rück, als er die Tür hinter ihr verriegelte. Ein verzweife l ter Plan nahm in ihr Gestalt an, zu verrückt, um lange das Für und Wider abzuwägen. Dinge wie diese mussten g e tan werden, bevor einem Zweifel am eigenen Verstand kamen.
    Sie lief hinunter auf den Hof. Hinter der geschlossenen Tür von Erlands Schmiede erklang blechernes Hämmern. Mägde eilten von einem Gebäude zum anderen, und aus der Küche roch es nach gebratenem Speck.
    Ailis hatte noch nicht das Tor erreicht, als hinter ihr ein Aufschrei ertönte. Erschr o cken fuhr sie herum. Der Schrei mündete in eine Vielzahl von Entsetzenslauten aus allen Winkeln des Hofes. Überall waren die Me n schen stehen geblieben und blickten an der Wand des Haupthauses empor. Ailis m usste einige Schritte zurüc k laufen, damit die Linde nicht ihre Sicht verdeckte.
    Fees Vater hatte seine letzte Reise angetreten.
    Aus einem der oberen Fenster hing ein straff gespan n ter Strick. Eberharts Körper zuckte noch, während sich die Schlinge um seinen Hals zusammenzog. Seine Finger öffneten und schlossen sich. Ein dunkler Fleck in seinen Beinkleidern verriet, dass sich seine Blase entleerte. Er war längst tot, als die ersten aschfahlen Köpfe wie G e spenster über ihm im Fenster erschienen.
    Ailis blieb ganz ruhig. Sie konnte nur sein Gesicht a n sehen, sein totes, weißes G e sicht, das sich durch nichts von dem unterschied, das er vorhin zur Schau getragen hatte, als er im Zimmer auf und ab ging und mit leiser, müder Stimme zu ihr sprach.
     
    Ein Sperling saß auf einer Strebe des schwarzen Gitters, nicht aufgespießt, nicht ang e lockt vom Gesang des Echos; er hockte einfach da, putzte sich die Flügel und stieß gelegentlich hohe, spitze Töne aus.
    Der Anblick des Abgrunds, durch den sich der Rhein zwischen den Felsen dahinschlängelte, war überwält i gend. Ausgerechnet heute wurde Ailis die Majestät dieser Aussicht zum ersten Mal bewusst. Der kleine Vogel und der Rhein in seinem grünen Bett verbreiteten eine so friedliche Stimmung, dass selbst Eberharts Tod in weite Ferne rückte. Nur einen Augenblick lang wollte sie st e hen bleiben und den Zauber der Lan d schaft genießen, wollte durchatmen und die Schatten der Vergangenheit für einen kurzen Moment vergessen.
    Dann aber sah sie die Fußspuren rund um den Schacht, s ah das niedergetrampelte Gras, die zerbrochenen Strä u cher. Jemand war hier gewesen.
    Natürlich!, dachte sie, teils erleichtert, teils besorgt – der Graf und seine Männer. Vielleicht war sogar Erland bei ihnen gewesen, schließlich hatte er das Gitter g e schmiedet. Sie hoffte, dass man den Ausbruch des Echos nicht ihm anlastete, denn seine Schmiedearbeit war fe h lerlos gewesen. Nur den Schlüssel hätte man ihm nicht anvertrauen dürfen. Bis heute verstand Ailis nicht, we s halb man den Schlüssel nicht im tiefsten Kerker der Burg eingemauert hatte, wo keiner ihn finden konnte – vor allem kein dummes, junges Ding, das dem Zauber der gefangenen Kreatur nichts entgegenz u setzen hatte. Wie hatte der Graf die Gefahr nur derart unterschätzen kö n nen?
    Sie schaute sich aufmerksam um, entdeckte aber ni e manden. Es wäre ohnehin zu spät gewesen, um jetzt noch Wächter aufzustellen.
    Ob Graf Wilhelm wusste, in wessen Körper das Echo entkommen war? Ahnte er, dass ausgerechnet Fee diej e nige war, die das Wesen in sich trug? Zumindest die Gr ä fin musste es wissen.
    Das Gitter lag unverändert einen halben Schritt von der Öffnung entfernt, dort, wo Fee es vor vier Tagen hi n gezerrt hatte. Es fiel Ailis schwer, sich nicht von all den bösen Erinnerungen überwältigen zu lassen, die sie mit diesem Ort verband. Zögernd ging sie neben dem Schacht in die Hocke, zum ersten Mal ganz nahe an se i nem Rand, und blickte hinab in die Tiefe.
    Ganz deutlich war der Vorsprung zu erkennen, auf dem das kleine Mädchen gese s sen hatte. Er wirkte jetzt vollkommen unscheinbar, nur eine graue, schroffe Fel s nase. Der Schacht verlief nicht gerade, sondern erstreckte sich schräg i ns Innere des Berges, fort von der Steilwand. Auch waren seine Wände nicht glatt behauen. Die Ka n ten und Risse würden Ailis Händen und Füßen ausre i chend Halt bieten.
    Bevor sie sich endgültig über die Kante schob und mit den

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