Loreley
Panik in ihren Zügen.
»Liebe Güte«, entfuhr es ihm, »was ist denn passiert?«
Sie gab keine Antwort, stürzte einfach auf ihn zu und fiel in seine Arme. Sie schluchzte leise, doch falls sie Tränen vergoss, blieben sie unsichtbar auf ihrem von Schweiß, Blut und Schmutz verschmierten Gesicht.
»Sachte, sachte«, flüsterte der Schmied und streichelte ihr kurzes Haar. Seine U m armung war unbeholfen wie die eines Bären, der etwas mit seinen Tatzen umfängt, doch Ailis fühlte sich in seiner Nähe sicherer als hinter den stärksten Mauern.
Diese Werkstatt, dieser rußige, düstere Verschlag, war ihr Zuhause, das hatte sie niemals stärker empfunden als in dies em Augenblick. Sie kam sich vor wie ein Kind, das sich die Decke über den Kopf zieht, aber das machte ihr nichts aus. Erland war hier, und bei all seiner Gro b heit verstand er es wie kein anderer, sie zu beruhigen.
Schließlich löste sie ihr Gesicht von seinem Wams und sah zu ihm auf. »Ich habe sie gesehen«, flüsterte sie heiser und dachte voller Entsetzen, dass ihre Stimme d a bei klang wie die der betenden Druiden. Magie? Ein b ö ser Zauber? Nein, nur Heiserkeit. Kein Wunder, so e r schöpft wie sie war.
»Wen hast du gesehen?«, fragte er.
»Die Naddred!«, stieß sie krächzend aus. »Oben auf dem Berg. Der Händler hatte recht.«
Erlands Augen verrieten, dass er ihr nicht glaubte. Vielleicht nicht glauben wollte. »Wo hast du dich nur herumgetrieben, Mädchen?«
»Aber ich sag’s doch. Ich war auf dem Lurlinberg. Und ich habe die Naddred ges e hen.«
Er schüttelte sanft den Kopf. Sein mächtiger Bart ki t zelte ihre Stirn. »Beschreib mir genau, was du gesehen hast.«
»Druiden! Zauberer! Was weiß ich …« Sie löste sich von ihm, taumelte einen Schritt zurück und wäre fast g e stürzt. Gerade noch gelang es ihr, sich an der Kante eines Tisches festzuhalten. »Es waren Naddred, Erland. Ich konnte es spüren!«
»Wie haben sie ausgesehen?«, fragte er zweifelnd.
Haarklein beschrieb sie ihm jede Einzelheit, ihre G e sichter, die weiten schwarzen Kapuzenmäntel. Und sie gestand ihm auch, dass sie in den Schacht gestiegen war.
»Als ich wieder hochkletterte, waren sie da«, sagte sie schließlich. »Sie wollten mich fangen, aber ich bin ihnen entkommen.«
Noch einmal schüttelte er verständnislos den Kopf. »Wären es tatsächlich Naddred gewesen, hätten sie dich gefangen. Ganz bestimmt sogar. Sie haben andere Kräfte als gewöhnliche Männer.« Er beugte sich vor, bis ihre Gesichter ganz nahe beieinander waren. »Was, zum Te u fel, hattest du überhaupt in diesem Loch verloren?«
Er sagte ›Loch‹, obwohl er natürlich die Wahrheit kannte. Sie fragte sich, warum er sich immer noch so viel Mühe gab, das Geheimnis zu bewahren. Schämte er sich so sehr für seinen Anteil daran?
»Ich weiß alles«, sagte sie. »Über das Mädchen. Über das Echo. Ich weiß es schon lange.«
Er packte sie an den Schultern, so ungestüm, dass sie vor Schmerz das Gesicht ve r zog. Trotzdem lockerte sich sein Griff nicht. »Ailis«, fuhr er sie scharf an. »Warst du es, die den Schlüssel genommen hat?«
Einige Herzschläge lang war sie so starr vor Angst, dass sie nicht einmal mit dem Kopf nicken konnte.
»Ja«, presste sie dann hervor, »ja, das war ich. Aber ich habe nicht aufgeschlossen. Fee hat das getan.«
Das war dumm von ihr und feige. Die Schuld auf Fee abzuwälzen war keine L ö sung. Hätte sie selbst nicht den Schlüssel gestohlen, hätte Fee gar nicht erst die Möglic h keit gehabt, das Gitter zu öffnen.
»Das Echo hat es mir befohlen«, sagte sie leise und konnte Erland nicht mehr in die Augen sehen. »Ich habe versucht, mich zu wehren, aber es ging nicht. Vielleicht« – sie stockte – »ich weiß nicht, vielleicht liegt es an me i nen Ohren. Ich bin empfindlicher als andere.«
Ausreden, nichts als Ausreden. Aber sie hatte plötzlich solche Angst, Erland könnte sie verstoßen, dass ihr alles andere gleichgültig wurde. Die Vorstellung, er könne en t täuscht von ihr sein, tat entsetzlich weh.
Erland sank zurück auf einen Hocker. Mit absurder Klarheit bemerkte Ailis, dass sie ihn kaum jemals zuvor hatte sitzen sehen. Für ihn bedeutete Sitzen Schwäche.
»Es ist meine Schuld«, murmelte er tonlos. »Ich hätte den Schlüssel besser verst e cken müssen.« Er barg das Gesicht in den Händen und rieb sich die Augen, bis sie feuerrot waren. »Es war immer nur eine Frage der Zeit, bis irgendwer ihn finden wü r
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